Zeitungsartikel

Zeitungsartikel – Reflexionen zur Heimatliebe

Im Folgenden finden Sie einen Aufsatz über Joseph, den ich als Studentin geschrieben habe und der über Josephs ausgesprochene Heimatliebe erzählt:

Weil „Kleinigkeiten“ wichtig sind …

„Sag mir, hat er das nötig?“, das fragte mich neulich ein lieber Freund – ein pensionierter Collegeprofessor für Germanistik und schon in Amerika geborener Jude mit großem historischen Interesse und Wissen. Mein Besucher aus den USA und ich saßen an diesem Abend in meinem Zimmer – „dem Archiv der Laaer jüdischen Gemeinde, wo ich aus einem merkwürdigen Grund Wohnrecht habe“, wie ich es scherzhaft nenne – und ich zeigte meinem Gast alles, was es da zu sehen gibt: meine Wand, über und über voll mit zusammengetragenen Fotos von „meinen ehemaligen Laaern“, die Sammelbüchse (der einzige erhaltene Einrichtungsgegenstand der Laaer Synagoge), die Schulzeugnisse und Lebensläufe, sowie die Mappen, in denen ich die Briefe aufbewahre, die ich in den vergangenen Jahren von „meinen Leuten“ bekommen habe. Darunter sind auch die Kopien von drei kurzen Artikeln über Joseph Kolb, der, 1902 geboren, bis 2001 in Los Angeles gelebt hat, wo ich ihn 1994 persönlich kennen lernen durfte. Die Titel der in Lokalzeitungen erschienenen kurzen Artikel sind: „Mrs. und Mr. Kolb kommen stets gern in die Heimat“, „Joseph Kolb kam aus Kalifornien in seine Weinviertler Heimat auf Besuch“ und „Joseph Kolb, ein geachteter Kaufmann„.

Für den objektiven Beobachter müssen diese Zeitungsausschnitte lächerlich unbedeutend wirken. Wieso sollte ein Vertriebener zurückkehren wollen und seine Zeit – die er nur mehr als Tourist, als zahlender Gast, hier verbringen kann – damit verschwenden, Journalisten von Lokalblättern Frage und Antwort zu stehen, auf dass sie dann ein paar Zeilen über den ungewöhnlichen Besucher veröffentlichen? Die Reaktion meines geschätzten Besuchers war: „Hat er das wirklich nötig?“ Die Frage trifft ins Schwarze. Auch Tage später noch spukt sie in meinem Kopf. Gehen wir nun dem Grund nach, wieso diese kurzen Zeitungsartikel erschienen sind.

Ich habe Joseph Kolb persönlich kennenlernen dürfen. Wenn ich an ihn denke, fällt mir ein, wie stolz er mir jedes Jahr schrieb, wie viele Glückwunschkarten er zu seinem Geburtstag aus der „Heimat, wo meine Wiege stand“ (so nannte er sie stolz in seinem ersten Brief an mich) bekommen hat. Die erwähnten kleinen Artikel kopiert er gerne und gibt sie an Bekannte weiter. Er ist stolzer auf sie als auf so manches, das er in seinem Leben gemeistert hat und das mit anderen Maßstäben gemessen wirklich Grund zum Stolz-sein wäre. Zum Beispiel, wie er es geschafft hat, sich in Amerika hochzuarbeiten, obwohl er nur mit 7 Dollar in der Tasche an Land ging. Trotzdem, diese kleinen Artikel waren ihm so wichtig, daß er sie gegen nichts hätte eintauschen wollen. Wieso?
Es wäre wahrscheinlich leichter gewesen, nach dem Krieg das „davor“ einfach zu vergessen. So einfach ist das aber nicht. Man denke, wie schmerzhaft ein kleines Unrecht für uns oft sein kann und wie wir uns sträuben, wenn man uns unser Recht im Alltag versagen will. Was man Joseph Kolb 1938 abgesprochen hatte, ist seine Ehre, sein guter Ruf. In der Zeitung wieder „ein ehrbarer Kaufmann“ genannt zu werden ist eine kleine Wiederherstellung – auch wenn es das große Unrecht nicht wieder gut machen kann.

Der Baal Shem Tov sagte: „Erinnerung ist das Tor zur Erlösung“. Joseph Kolb erinnerte sich – an die guten und die schrecklichen Zeiten, doch vor allem an die guten. In einem Radioprogramm habe ich einmal gehört, dass ein weiser Rabbi immer nur eine seelische Wunde aufbindet, denn wenn er alle aufbinden würde, zerbräche der Mensch daran. Joseph Kolb hatte sich entschlossen, in Bezug auf die alte Heimat die größten Wunden zugebunden zu lassen. Nur so konnte er die übergroße Toleranz aufbringen, mit den Menschen der Heimat in Kontakt zu treten.

Als Menschen sind wir immer auf der Suche, wenn schon nicht nach Glück, so doch zumindest nach einer Art Zufriedenheit. Für Joseph Kolb ist es wahrscheinlich ein gewisses Maß an Zufriedenheit gewesen, als er seine Ehre wieder ein wenig hergestellt fühlte. Niemand kann den Überlebenden wiedergeben, was ihnen genommen wurde. Was wir tun können, ist zu verstehen, dass manchmal eine Kleinigkeit für einen anderen Menschen von unschätzbarem Wert sein kann.