Briefe von Alice Grünwald an mich mit thematischen Einfügungen aus Briefen an Dr. Lichtblau – Univ. Salzburg
2. Oktober 1995
Liebes Fräulein Müllner,
Ich kann Ihnen gar nicht schildern WIE überrascht ich war, als ich ein Couvert mit dem Absender aus Laa an der Thaya in der Hand hielt. Ich habe mit großer Freude und mit großem Interesse Ihren Brief gelesen, ebenso die Beilagen. […]
Seit Jahren stehe ich mit Dr. Univ. Doz. Albert Lichtblau von der Universität Salzburg, Institut für Geschichte in Verbindung. Er stellte mir sehr sehr viele Fragen, die ich alle beantwortet habe und auf diese Weise hat er meine ganze Lebensgeschichte bekommen und glaube, er hat sie an das Leo Bäck Institut in New York weiter gegeben. Nun möchte ich das nicht noch einmal alles wiederholen, aber ich habe nichts dagegen, wenn Ihnen Dr. Lichtblau eine Kopie aller meiner Briefe schicken würde. Sie können sich bitte mit ihm in Verbindung setzen und ihm Kopie dieses Briefes schicken, da ich Ihnen nun alles was ich über die Mistelbacher und meine Verwandten aus Laa an der Thaya, weiss, berichten will.
Meine Großeltern Samuel und Charlotte Münz lebten in Mistelbach in der Bahnhofstrasse Ecke Gartengasse. Die Synagoge war sehr schön und hatte ca 60 jüd. Familien. Sie hatten 4 Kinder. Der jüngste Sohn Julius wurde im ersten Weltkrieg von einer italienischen Granate zerrissen.
Der Sohn Gustav war im 1. Weltkrieg Offizier, bekam etliche Auszeichnungen und überlebte. Er war Ing. chem. und emigrierte nach England wo er mit 90 Jahren starb. Der Erstgeborene, Moritz starb schon als Kind. Er, Julius und meine Großmutter liegen am Mistelbacher Friedhof begraben. Meine Mutter Ida Münz, verh. Grünwald, war die einzige Tochter. Sie starb hier in Peru im Jahre 1967 mit 82 Jahren.
„Meine Mutter: Sie ist 1884 in Mistelbach geboren und hat dort in der guten Schule ihre Ausbildung bekommen. Sie hat das Glück gehabt in verhältnismässig ruhigen Zeiten aufzuwachsen, wurde von ihren Eltern wohlbehütet und zur guten Hausfrau erzogen. Sie war von ihrer Jugend an bis zu ihrem Tode sehr belesen; ihr Vater nahm sie oft nach Wien mit, die Stadt die sie so sehr liebte. Als sie später in der Emigration Wiener Lieder hörte, kamen ihr immer die Tränen in die Augen. Sie war in der Jugend sehr kaiser-treu, liebte gute Theaterstücke und Operetten. Als sie ins heiratsfähige Alter kam, wurden ihr verschiedene Anwärter präsentiert, wie es Ende des vorigen Jahrhunderts eben so üblich war. Wenn sie zu Tanzunterhaltungen in Begleitung ihrer Mutter ging, schreiben sich die jeweiligen Tänzer schon im Vorhinein auf ein hübsches Kärtchen ein, um sich den Walzer oder andere Tänze mit ihr zu sichern. Sie hatte solche Kärtchen aufbewahrt und wir „moderne Töchter“ amüsierten uns darüber. Ebenso über den Briefwechsel, den sie mit meinem Vater während ihrer Verlobungszeit führte. Die Hochzeit fand am 28. Juni 1908 in Mistelbach statt.“
[Anm.: an anderer Stelle] „Als meine Eltern 1908 heirateten bekam meine Mama außer einer wunderbaren Aussteuer eine große Mitgift und so hatten wir eine schöne Wohnung (in Miete) sogar mit einem Badezimmer, was zur damaligen Zeit nur wenige hatten.“
„Das Verhältnis meiner Mutter zu uns Töchtern war ein ganz ausgezeichnetes und war sie die allerbeste Freundin meines Lebens. Sie half meinem Vater in jeder Hinsicht, klagte nie, auch wenn das Leben im Laufe der 1. Nachkriegszeit, […] nicht leicht war. Sie pflegte meinen kranken Vater mit großer Selbstaufopferung, obwohl sie auch öfters „auf einen Sprung“ nach Mistelbach musste, als ihre Mutter an Angina pectoris erkrankte. Meine Mutter hatte sehr viel „Mutterwitz“ und Naturverstand besessen und hat das Leben in jeder Situation zu meistern verstanden. Jeder, der sie kannte hat sie geschätzt und mir fehlt sie heute noch.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
„Mein Vater und seine Brüder kamen als ganz junge Burschen nach Wien und kamen in die Lehre, wo sie auch ihre Lehrzeit im Hause der div. Meister verbringen mussten. Sie haben ihren Vater in jungen Jahren in ihrem Geburtsort Holicz verloren und mussten für ihre Mutter sorgen. Auch die Mädchen mussten früh arbeiten. Mein Vater und seine Brüder waren begeisterte Opernanhänger und erzählte mir, dass sie sich am Sonntag schon frühmorgens in der Wiener Staatsoper anstellten um auf der 4ten Gallerie einen Stehplatz zu bekommen. […] Als mein Vater und seine Brüder schon in Wien arbeiteten, mieteten sie eine Wohnung, die sie später in eine Werkstatt verwandelten. Sie befand sich im 6. Bezirk, Liniengasse 17, und bestand aus 4 hintereinanderliegenden Räumen. Mein Vater übernahm den handwerklichen Teil und ein jüngerer Bruder den Verkauf und die Buchhaltung. Ein Raum diente als Büro, der nächste war mit großem Zuschneidetisch, Lager von Leder ausgestattet und den diversen Schnitten für Handtaschen, Brieftaschen und Börsen für Hartgeld. Die feinsten Wiener Lederwaren wurden an die diversen Lederwarengeschäfte geliefert. […] Ich sehe heute noch vor meinem geistigen Auge meinen Vater vor dem Zuschneidetisch stehen, in einem Arbeitsmantel, mit einem scharfen Messer am Rande der Metallschnitte das Leder nach dem Schnitt zu schneiden. Im nächsten Raum saßen 6 bis 8 Arbeiter und klebten die zugeschnittenen Leder, was mein Vater aber vorher im letzten Zimmer, wo eine Schärf- und eine Nähmaschine standen, am Rande schärfte, das heißt, das Leder musste auf den Rändern dünner gemacht werden, damit man es kleben und verarbeiten konnte. Mein Vater hat sein Handwerk erstklassig beherrscht und war sehr fleissig. Aber nachdem ein Detailgeschäft nach dem anderen in Konkurs ging, rissen sie auch die Lederfirmen mit. Eines Tages kam mein Vater nach Mistelbach, wo Mama und ich meine Ferien verbrachten und schloss sich mit meiner Mama in ein Zimmer ein, aber ich hellhöriges Kind belauschte sie, hörte meinen Vater unter Schluchzen meiner Mama erzählen, dass er gezwungen sei, auch Konkurs anzusagen. Bald darauf bekam er einen Schlaganfall, dem er nach 5 Jahren linksseitiger Lähmung im Jahre 1934 erlag. […] Wovon wir zu dieser Zeit lebten. Die Großeltern und die Geschwister meines Vaters halfen aus. Eine Schwester meines Vater, unsere geliebte Tante Anna, war eine wohlhabende Witwe (ihr Mann hatte eine Tuchfabrik in Bielitz und als er an einem Unfall in dieser Fabrik jung starb, ließ er sie mit einem Vermögen zurück mit 3 Kindern). Mein Vater liebte diese Schwester abgöttisch und half ihr viel über ihre schwere Zeit hinweg. Nun half sie uns und ließ uns monatlich einen Betrag zukommen. Mein Onkel Heinrich, der inzwischen Direktor einer Schuhlederfabrik war, zahlte die 2 Jahre Handelsschule für mich.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Als ich im Jahre 1964 Mistelbach besuchte fand ich die Grabsteine nicht mehr, sie waren zur Nazizeit umgeworfen worden. Der Friedhof war in verhältnismäßig gutem Zustand, denn ein Cousin von mir, der nach dem Krieg bei der Wiener jüd. Kultusgemeinde tätig war, veranlasste die Instandhaltung der Friedhöfe. Ich danke Ihnen und Ihren Eltern, dass Sie das nun übernommen haben. Ich finde Ihr Interesse an unserem Schicksal wirklich rührend.
Meine Großmutter und ihr Bruder Ignaz Brünner stammten aus Nikolsburg und beide lebten Jahrzehnte in Mistelbach. Ignaz Brünner war so wie mein Großvater Getreide- und Mehlhändler. Onkel Brünner wohnte am Hauptplatz. Seine Frau war sehr orthodox fromm, sie stammte aus Gewitsch. Sie hatten eine Tochter Cilly, die Gustav Maneles aus Laa / Thaya heiratete und dort lebte sie seither. Sie hatten einen Sohn Heinzi mit dem ich in England, wo ich 38-46 lebte, noch in Kontakt war. Er diente dort im Pioneer Corps, wie fast alle männliche Emigranten. Sie hatten die Flucht aus Dünkirchen auch mitbekommen. Dann habe ich Heinzis Adresse verloren. Mit den geborenen Eisingers aus Mistelbach (sie waren alle Viehhändler und wohnten auch am Hauptplatz) habe ich mich im Jahre 1964 in New York getroffen, aber sie im Laufe der Jahre aus dem Gesichtskreis verloren. Sie sind ja schon alle uralt, soweit sie überhaupt noch am Leben sind. Bitte geben Sie mir Lily Kolb’s (geb. Eisinger) Adresse. Ich werde im Dez. 80 Jahre alt und ich war eine der jüngsten der „Mistelbacher“. Ich bin in Wien geb. von wo ich 1938 nach England als Dienstmädchen geflüchtet bin.
[Die] “Stumpergasse […] Nr. 23 sieht noch so aus wie früher. […W]ir hatten einen Park in der Nähe. Er hieß Loquai Park und ich traf mich jeden Nachmittag dort mit meiner Freundin Käthe Plaschek, die heute eine alte Dame in England ist […]. Unsere Mütter haben uns schon im Kinderwagen dort spazieren geführt[. …] Manchmal führten uns unsere Mütter auch in den etwas weiter gelegenen Esterhazy Park, der größer war. […] Am Loquai Park war eine „Bürgerschule“ später Hauptschule genannt. Dort hatten wir jüdischen Mädchen vom 6. Bezirk 2 Mal die Woche Religionsunterricht. […] Der Loquaipark hatte keinen eigentlichen Spielplatz, aber vor der Bürgerschule und dem Park war eine unbefahrene Strasse und dort spielten wir Ball und Diabolo[. …]Ich hatte zwei Puppen, die eine war das Lottchen, eine Babypuppe, die ich von meiner Schwester erbte und die wie ein ganz großer Schatz gehütet wurde, sodass meine Nichte nach all den Jahren noch ihre Freude daran hatte. Sie war zerbrechlich und dementsprechend mit Vorsicht und viel Liebe behandelt. Die zweite war „Ingeborg“, unzerbrechlich und mit einer Freundin, deren Mutter Schneiderin [war], nähten wir aus Stoffresten die schönsten Kleider.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
„Als die schon erwähnte Kindheitsfreundin Käthe und ich ca. 14 od. 15 Jahre alt waren, erklärten unsere Mütter, junge Mädchen müssten unbedingt tanzen können und schrieben uns beide in eine Tanzschule ein. […]Dort lernten wir Walzer, Tango, Jimmy tanzen. Damals saßen unsere Mütter noch dabei, aber als wir genug tanzen konnten gingen wir im Fasching schon alleine auf Maskenbälle. […] Wir Mädel gingen in Gruppen zu den Tanzveranstaltungen, Varietes, die zu meiner Zeit hervorragend waren und irgendwie lernten wir die Burschen kennen. Wenn eine Freundin einen Freund hatte, brachte dieser dann andere mit und so bildeten sich Gruppen. Sonntags ging es immer in den Wienerwald, abends am Stehplatz ins Theater. Ans Heiraten konnten wir alle nicht denken, denn unseren Mittelstands Eltern ging es allen sehr schlecht und wir mussten alle unsere Verdienste zu Hause hergeben. […] Wir gingen im Winter gerne ins Cafe, weil es dort schön warm war. Wir trafen uns manchmal abends nach der Arbeit, wenn wir nicht turnen gingen oder irgendwelche Kurse besuchten. Ich konnte schon in Wien ziemlich gut Englisch, was mir in der Emigration gute Dienste leistete.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Mit den Feldsberg, die auch in der Bahnstrasse lebten, sie waren Weinhändler, war ich bis vor ca 25 Jahren noch in Contakt. Ernst Feldsberg kam mich vor vielen Jahren hier besuchen und ich besuchte ihn und seinen Bruder Leo einmal in Cali, Columbien, wo sie ihre Zuflucht fanden. Der Schuherzeuger Hans Frischmann, der am Hauptplatz ein schönes Schuhgeschäft hatte, lebt (?) in Buenos Aires und mein Sohn besuchte ihn vor vielen Jahren dort. Seine Schwester Rosel, die meine beste Freundin war, war auch erst in England und wanderte dann nach Australien weiter. Leider habe ich ganz mit ihr den Contakt verloren. Ich verbrachte die ganzen Ferien in Mistelbach und man nannte mich dort nicht mit meinem Familiennamen sondern den der Großeltern. „Wem g’hörst denn?“ fragte man mich und darauf hiess ich einfach die Münz Lisl.
Ein oder zweimal besuchte ich die Maneles in Laa an der Thaya. Ich glaube Gustav Maneles war auch Getreidehändler. Dass die meisten Juden „Händler“ waren, stammt daher, dass man sie zu dieser Zeit nicht zu anderen Berufen zuließ. Später änderte sich das, obwohl weiter ein „Numerus Clausus“ für Juden an den Universitäten existierte.
G.s.D. hat sich das geändert. In den U.S.A. war der Emigrant Kissinger ein sehr tüchtiger Außenminister. Auch hier hatten wir in den letzten Jahren einen Senor Goldenberg, dessen Eltern aus Polen od. Russland stammten, als Prime Minister. Aber leider gibt es auf der Welt wieder sehr viel Antisemitismus. Im Allgemeinen waren die Österreicher noch viel größere Antisemiten als manche Deutsche. Hitler war ja schließlich auch ein Österreicher. Aber man darf nichts verallgemeinern.
„Nun zum traurigen Thema Nationalsozialismus. Ja, ich wurde vom Einmarsch der deutschen Truppen überrascht. Wir wussten wohl was in Deutschland vorging, haben alles Deutsche boykottiert, aber dachten doch nicht, dass so etwas in Österreich passieren könnte. Ich traute meinen Augen nicht über den gut vorbereiteten Empfang, den die Österreicher den Nazis und Hitler bereiteten. Über Nacht war schon alles beflaggt und überall stand „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, sogar auf den Stufen der Stadtbahn, mit der ich zur Arbeit fuhr. Mir persönlich ist G.s.D. nichts zugestoßen, nur, dass meine Bürokolleginnen sich nicht mehr auf der Straße mit mir zeigten. Aber ich sah von Weitem, wie alte Juden mit einer Zahnbürste die Straße reiben mussten, wusste von vielen Leuten, die gleich am Anfang eingesperrt wurden. Im Stürmer war ein kleiner Cousin verzerrt als Sau-Juden-Kind fotografiert. […] Gleich als Hitler nach Wien kam, suchte ich Möglichkeiten um auszuwandern. Ich schrieb in die ganze Welt, auch nach Süd-Afrika, denn einmal war ein süd-afrikanischer Junge in Wien. Aber niemand wollte uns Juden haben. Nur England gab die Erlaubnis als Dienstmädchen zu arbeiten, worüber meine Mutter anfangs entsetzt war. […] Meine Lebensretter in England waren sehr fromme Juden, besonders der Herr des Hauses erschien mir wie ein Heiliger. Er war herzensgut und bestand darauf, dass ich bei Tisch neben ihm kam. Er arbeitete schwer, aber fand immer Zeit in den heiligen Büchern zu studieren. Sie kamen aus Riga, Lettland. Ich musste auch sehr hart arbeiten, denn es war ein Riesenhaus und eine sehr große Familie. Aber ich war jung, die Arbeit hat mir nicht geschadet. Meine Sorge um meine Familie war das Ärgste. Zum Geburtstag meiner Mutter rief ich sie tel. an; das erste Überlandgespräch meines Lebens. Mama hat sich am Tel. derart aufgeregt, dass sie nachher einen Gallensteinanfall bekam. Nach der „Kristallnacht“ kam ein verzweifelter Brief meiner Mutter, in dem sie mich bat, ihr sofort ein Permit als Köchin zu verschaffen und eine Garantie für meinen 86 jährigen Großvater und für meine Schwester mit Mann und Baby ein Permit als „married couple“. Das war eine schwere Aufgabe für mich, denn ich verdiente 15 englische Shilling und kannte außer ein paar andere Refugees keinen anderen Menschen. Mithilfe der Tochter des Hauses habe ich dann Leute gefunden, die formell die nötigen Papiere unterzeichneten[. …] Im März 1939 kam meine Mutter mit ihrem alten Vater an, mit einem vollkommenen Nervenzusammenbruch. Die Leute, die für sie unterschrieben haben, brauchten in Wirklichkeit keine Köchin und ich lief verzweifelt in verschiedenen Boardinghäusern herum, um für sie und den Großvater für die erste Zeit ein Zimmer zu finden. Die Rettung kam von dem Bruder meines Schwagers, der unter den wenigen Refugees war, denen etwas anderes als Hausarbeit zu machen erlaubt war. Er war Ingenieur und hatte eine Pumpe oder so etwas erfunden, was für die englische Kriegsindustrie wichtig war. Er lebte in Birmingham und erklärte sich bereit, meinen Großvater, der ganz rüstig und klug und lieb war, zu sich zu nehmen. Mama und ich fanden dann eine Stellung in einem schlossartigen Haus. Mama war die „cook“ und ich die „parlour-maid“, dann gab es noch eine house maid, einen gardener und einen chauffeur. […] Inzwischen kam auch meine Schwester mit Mann, das Kindchen kam auch zum Bruder meines Schwagers, wo es Großvaters Aufgabe war, seine Urenkelin zu behüten. […] Als der Krieg ausbrach hatten die reichen Leute, bei denen Mama und ich arbeiteten, Angst und evakuierten nach Northwales. Dorthin nahmen sie nur Mama und mich mit. Dort war es sehr schön, aber wir wollten dort sein, wo unsere Familie war. Meine Schwester und Schwager waren inzwischen auf mehreren Landschlössern, wo es nicht einmal elektr. Licht gab, alles war mit Kerzen beleuchtet und mein Schwager eignete sich absolut nicht als Butler und meine Schwester hatte von der engl. Kocherei auch nicht viel Ahnung und so zogen sie von einem Kerzenschloss ins andere. Als dann im Laufe des Krieges so viele Engländer eingezogen wurden und es knapp am Mann wurde, erlaubte man uns friendly aliens auch andere Arbeiten anzunehmen. Da zogen Mama und ich nach Birmingham zurück, mieteten dort ein großes altes Haus mit Garten und machten ein Boardinghouse daraus. Unsere ersten Mieter waren meine Schwester mit Familie, eine Verwandte mit Mann und andere Refugees, Freunde aus Wien etc. […] Birmingham [war] eine der meist gebombtesten Städte. Wir wohnten nicht weit der Austin Werke, was oft das Ziel der Deutschen war. Wir waren ca. 15-18 Personen im Haus. Zuerst legten wir eine große alte Matratze unter die Treppe und hockten oder legten uns alle darauf. Wir hatten einen Kohlenkeller im Haus, daraus machten meine Freundin und ich einen air-raid shelter, indem wir mit einer Holzhacke ein Loch zum Garten schlugen, damit wir einen Notausgang hätten, wenn das Haus zusammenfallen sollte. Wir haben viele Jahre in keinem Bett geschlafen, entweder saßen wir in dem feuchtkalten Keller oder wir streckten uns ein bisschen auf der alten Matratze unter der Treppe aus. Nur mein Großvater blieb im Bett liegen, er hatte keine Angst und wir befürchteten, dass er sich im Keller eine Lungenentzündung zuziehen könnte. […] Während dieser Nächte wurden wir nur Ohren. Wir erkannten an den Geräuschen, ob es „unsere“ (engl.) Flugzeuge waren oder die Deutschen, sogar die verschiedenen Marken konnten wir unterscheiden. […] Es war ein hartes Leben in England, aber wir waren jung und hatten große Hoffnungen, dass Hitler und sein Anhang geschlagen wird und nach dem Krieg eine bessere Welt geschaffen wird. Ich habe die Engländer geliebt, denn wenn man mit einem Volk zusammen so viel Schweres durchmacht, empfindet man eine Verbundenheit mit den Leuten. Bevor Hitler kam, habe ich das Wort „Hass“ nicht gekannt und nicht ausgesprochen […], aber wenn ich die Nachrichten über die Konzentrationslager, in denen viele meiner Verwandten umkamen, hörte, habe ich Hass gespürt.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
„Das Kriegsende erlebten wir in Birmingham, England. Die Menschenmassen konzentrierten sich am V-Day im Zentrum der Stadt, man wurde einfach mitgerissen, umarmte jeden und brachte der Hoffnung auf eine bessere Welt mit Gesängen und Gebärden Ausdruck. […] Seit 8 Jahren korrespondierte ich mit meinem Cousin Ernst, der in Berlin geboren war und als ich vor meiner Auswanderung nach England dort zu Besuch war, verliebten wir uns, ohne es uns einzugestehen. Die Zeiten waren zu unsicher um irgendeinen Kompromiss einzugehen. Nur als ich mich in England mit einem Immigranten Soldaten verlobte und dies meinem Vetter schrieb, wünschte er mir zwar viel Glück, aber gab gleichzeitig seiner Enttäuschung Ausdruck, denn er hätte gehofft, ich würde ihn eines Tages heiraten. Daraufhin löste ich die Verlobung auf. Mein Vetter war seit 1940 in Peru[. …] Er konnte nicht früher auswandern, weil sein einziger Bruder an einem Jugendkrebs erkrankte und starb und er seine Eltern, die auch krank waren, nicht alleine lassen wollte. […] Auch Peru wollte keine jüdischen Einwanderer hereinlassen. Durch Zufall war das Büro, wo mein Mann arbeitete, neben dem Büro eines früheren Außenministers. Den bat Ernst ihm bei der Beschaffung eines Visas für seine Braut und die Schwiegermutter behilflich zu sein. Am nächsten Tag hatte er das Visum für uns beide. Inzwischen waren wir schon „Per Proxi“ verheiratet. D.h. Ernst ging hier mit seiner Chefin zum Standesamt. Ich hatte vorher beim peruanischen Consulat in England dieser Frau die Vollmacht gegeben für mich beim Amt zu unterschreiben, was sie auch tat. England hat natürlich sowas nicht anerkannt, also fuhr ich hier als Fräulein Grünwald von England ab und kam als Frau Grünwald hier an. Wir wollten eine religiöse Hochzeit hier machen, aber als ich hier ankam, hatte mein Mann große Schwierigkeiten, denn die Firma, wo er arbeitete, ging zu Grunde und ich kannte außer ihm keinen Menschen und wusste nicht wie eine Hochzeit zu arrangieren. Außerdem hatte die deutschsprechende Gemeinde keinen richtigen Rabbiner, sondern ein ehemaliger Rechtsanwalt aus München, der jüd. gebildet war, funktionierte als Vorbeter. Also sagte mein Mann zu Hause alleine die vorgeschriebenen Gebete, wir steckten uns die Eheringe an und meine Mutter war Zeugin.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
„Ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich im Jahre 1946 von England mit einem der ersten Schiffe nach USA fuhr, wo uns Verwandte in New York erwarteten. Es war ein schwedisches Schiff, die Drottingholm, die speziell „war-brides“ nach USA brachte. […] Als wir im Hafen Callao standen, war ich froh, dass ich elektr. Licht sah, doch ein Zeichen, das ich nicht in die Wildnis fuhr, wie die Amerikaner dachten. Denn als ich mir in England das Durchreisevisum für die Staaten holte, waren die Amerikaner dort nicht wenig erstaunt, als ich erwähnte, dass ich nach Peru fahren werde, um dort meinen Cousin zu heiraten. Ich glaube, sie erklärten mich für verrückt. G’tt sei Dank mich hat es nicht gereut.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Ich habe in Österreich schon als Büroangestellte gearbeitet und habe von hier aus dann meine Pensionskasse weiterbezahlt und seit ich im Pensionsalter bin, bekomme ich von der Pensionsversicherungskasse für Angestellte eine Pension, wofür ich sehr dankbar bin. Jetzt nach 50 Jahren gibt es einen Hilfsfond für ehemalige Verfolgte, aber man überlegt noch immer lange hin und her, wie das Formular zur Anmeldung gestaltet werden soll und wann man endlich aus diesem Fond den ehemaligen Mitbürgern etwas zahlen soll. Das Problem wird sich bald von alleine lösen, indem die meisten schon „in die bessere Welt“ gelandet sein werden.
Ich freue mich dass Sie Gelegenheit hatten, Israel und die U.S.A. zu besuchen und das Holocaust Museum in Washington und sicher in Israel Yad Vashem. Letzteres habe ich im Jahre 1964 besucht, wo ich glücklicherweise die Gelegenheit hatte, mit meinem Mann (er war ein Cousin von mir, daher habe ich den Namen Grünwald nicht verloren. Aus dem ü hat mein Mann ein ue gemacht, da man in anderen Sprachen keine Umlaute kennt.) im Jahre 1966, also bin schon 29 Jahre Witwe. Unser einziger Sohn lebt in Californien und wenn es gut geht sehe ich ihn einmal im Jahr. Er ist Ing. Chemiker, spezialisiert in Industrie Hygiene und arbeitet schon 21 Jahre in derselben Firma. Da ich schon fast 50 Jahre hier in Lima lebe ist es mir unmöglich in Californien zu leben. Hier habe ich eine kleine Wohnung, ganz „nach Mass“ für mich gemacht und bis jetzt leide ich nicht an Einsamkeit. Ich habe sehr gute Freunde hier, meistens sind es Emigranten, aber auch einige Peruaner. Hier gibt es „calor humana“ menschliche Wärme, alles ist nahe und ich kann noch meinen kleinen Haushalt führen. Nachts schläft ein sehr liebes 26 jähr. Mädchen bei mir, die ganz in der Nähe bei einem großen Supermarkt arbeitet, der einer großen chinesischen Familie gehört und erstklassig geführt wird. Unser Präsident hier von japanischen Eltern geboren wurde, heisst Fujimori und wurde vor kurzem zum zweiten Mal gewählt. Hier gibt es ein Rassengemisch und die meisten sind indischer mit spanischer Abstammung. (Indios, nicht Inder). Man nennt sie Criolen oder Cholos. Leider ist hier der Unterschied zwischen arm und reich sehr gross. Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, die für die staatlichen Spitäler arbeiten, werden leider noch sehr schlecht bezahlt. Es ist in den letzten Jahren zwar sehr viel besser geworden, aber da sich die Armen wie die Kaninchen vermehren, gibt es noch entsetzliche Armut. Aber wo auf der Welt herrscht schon Gerechtigkeit. Mein Mann hatte auch Rechtswissenschaften studiert, musste es aber wegen Hitler unterbrechen. Seine beiden Eltern sind in Auschwitz umgekommen und das hat viel zu seinem frühen Tod herbeigeführt, denn er ist nie darüber hinweggekommen.
„[Er] schrie oft im Schlaf auf, wenn er davon träumte. Sie wurden Anfangs mehrmals geholt und da sie tschechische Staatsbürger waren, wieder frei gelassen. Es gab eine alte Hausangestellte seiner Großeltern, die brachte ihnen in einem Versteck auf der Straße heimlich etwas zu essen, denn Juden wurden die Rationsmarken weggenommen. Nach dem Krieg schickte uns die gute Seele kleine Dankschreiben, die meine Schwiegermutter in dem Versteck zurückließ. Sie kamen erst gegen Ende des Krieges nach Auschwitz, von wo sie kurze Rote Kreuz Nachrichten sandten.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Ich bewundere Sie, liebes Fräulein Magdalena, wo Sie bei Ihrem Studium noch Zeit finden für Ihre Forschungsarbeit und ich danke Ihnen ganz herzlichst für Ihr Interesse an den jüdischen Geschehnissen und Ihre Anteilnahme. Wenn Sie noch was wissen wollen, schreiben Sie mir ich werde mich freuen, wieder von Ihnen zu hören. Herr Dr. Lichtblau ist ein richtiger Brieffreund geworden.
Alles Gute wünscht Ihnen, Ihrer Schwester und Ihren Eltern Ihre
Alice Gruenwald
27. März 1996
Liebes Fräulein Magdalena
Sie sind ja eine erstklassige Briefschreiberin und ich danke Ihnen für Ihr ausführliches Schreiben v. 16. durch das ich an Ihrer Reise richtig teilnehmen konnte. Bevor ich genauer darauf eingehe, möchte ich Ihnen für Ihre Mühe danken, denn durch Sie bin ich mit Herrn Arie Neeman, den Cousin v. Heinz, in Verbindung gekommen. […]
Nun zu Ihren Fragen:
1) Sie fragen, wie wir vor Hitler dem Zionismus gegenüber eingestellt waren. Einige meiner Freunde waren schon damals Zionisten u. sind auch nach dem damaligen Palästina ausgewandert. Ein boy-friend wollte mich schon ca. 1935 überreden mit ihm dort hin zu fahren. Mir erschien damals eine Idee von meinen Eltern wegzugehen absurd. Ein anderer boy-friend schrieb mir erst nach England, daß er ca. zur selben Zeit wie ich „illegal“ nach Palästina fuhr. Ich fragte ihn, warum er mir das nicht in Wien gesagt hat, da antwortete er mir, er hatte Angst, ich würde ihn davon abhalten. In England wurde ich dann auch Zionistin u. trat der Zionistischen Organisation bei.
2) In Mistelbach gab es auch keine Bat Mitzwa, schon aus dem Grund, daß die kleinen Gemeinden in der Provinz oft keinen Rabbiner hatten, sondern nur Kantoren, die den G’ttesdienst leiteten.
„Der Kantor in Mistelbach musste nicht nur vorbeten, sondern gleichzeitig das Amt eines Rabbiners übernehmen und Religionsunterricht erteilen. Nur zu den ganz wichtigen Anlässen kam ein Rabbi aus Wien. Ich glaube zur goldenen Hochzeit meiner Großeltern war ein Rabbi anwesend. Die Gemeinde war verhältnismässig klein, alle verkehrten mit einander, sie gehörten zu den heute genannten „Konservativen“. Einige waren mehr religiös, andere wieder weniger, aber das spielte keine Rolle. Freitagabend, Samstagvormittag war G’ttesdienst, manchmal war es schwer die 10 Männer für die Minjen zusammenzubekommen, dann holte man schnell einen zehnten Mann aus seinem Haus, denn alles war ja sehr nahe. Telephon hatte in meiner Kindheit kaum jemand. Es gab einen „Schammes“, der ging „einsagen“ wenn eine Mitteilung zu machen war. Feiertags war die Synagoge immer voll. Es gab auch einen Kultusvorstand, einen Frauenverein und eine Chevra-Kadische.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
„Im Tempel war eine große Tafel jüdischer Soldaten, die im 1ten WK gefallen sind. Darunter Mutter’s Bruder Julius Münz. Der andere Bruder Gustav hat als Offizier den 1sten Weltkrieg überstanden. Er war chem. Ing. und wurde in der Emigr. in England 90 Jahre. […] Ein Kantor hieß Gelbhard.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
In Wien, im 6. Bezirk, wo wir wohnten, gab es im „Schmalzhof Tempel“ einen sehr guten Rabbiner, bei dem wir „Konfirmanden Unterricht“ hatten. Wir waren ca ein Dutzend Mädchen. Wir mussten die 13 Glaubensartikel in Hebräisch und Deutsch aufsagen und noch vieles, woran ich mich nicht mehr so genau erinnere. Jedes Mädchen bekam ein Gebetbuch mit einer Inschrift „Zum Andenken an die Konfirmation“, ich habe es heute noch. In orthodoxen Gemeinden gab es keine Bat Mitzwah. Hier gibt es 3 Gemeinden. Eine die 1870 v. deutsch sprechenden Juden gegründet wurde, der ich seit 50 Jahren angehöre, obwohl kaum noch jemand deutsch spricht. Dann gibt es die „sephardische“ Gemeinde und die „Union Israelita“. In allen 3 Gemeinden gibt es 1x im Jahr Bat Mitzwahs.
3) Juden u. Christen lebten sehr friedlich in Mistelbach zusammen. Mein Großvater spielte mit dem Herrn Apotheker u. dem Pfarrer zusammen Tarock. Ich glaube, Ökumene zw. Kirche u. Synagoge hat es nicht gegeben.
[…] Mein Mann hatte Jura studiert, musste es aber weg. Hitler unterbrechen. Mich hat die Sprache davon abgeschreckt, denn Rechtsanwälte gebrauchen sehr schwere Ausdrücke. Die Handelsschule besuchte ich der Not gehorchend, Naturwissenschaften interessierten mich mehr. […] Ich bin zum Seder Abend bei Freunden eingeladen. Ich habe ein Tonband von einem Seder, den mein Mann u. Sohn u. Mama u. ich gaben u. wir hatten viele Gäste. Da waren wir sehr glücklich. Leider starb mein Mann so jung, vieles wäre für meinen Sohn anders geworden, wenn sein Vater gelebt hätte. Alles Liebe für Sie und Ihre Familie wünscht Ihnen Ihre alte Brieffreundin
Alice Grünwald
8. Juni 1996
Liebe Magdalena,
Sie sind ein wahrer Schatz, was Sie alles tun. Aber man sieht es Ihnen auch an. So ein liebes Gesichterl, richtig zum Abpusseln. [….] Vielen Dank für das schöne Andenken aus Laa. Es hängt in meinem Speiszimmer. […]
Wir haben hochdeutsch zu Hause gesprochen, aber ich habe einige „Jiddisch“ sprechende gekannt u. sie auch verstanden. Die Mutter eines meiner Boy-friends sagte zu mir: „Frl. Lisl mit gewehnte Zures lebt man in fraden“ (Mit gewohnten Sorgen lebt man mit Freuden“) Wie oft hab ich an diesen weisen Ausspruch gedacht. Wir haben in Mistelbach auch viele jiddische Aussprüche gebraucht, die auch von manchen Nichtjuden angewendet wurden. Z.B. Mieß (hässlich) Masel (Glück) Schlemil (ungeschickter Mensch) Gewelb (Geschäft, das alt hoch deutsche Gewölb). Jiddisch stammt ja aus dem Althochdeutsch. Chuzpe (Frechheit) usw.
Die jiddische Literatur ist in allen Sprachen übersetzt. So habe sämtliche Bücher von Shalom Asch in Deutsch oder Englisch gelesen. Er war von Maria u. Jesus beeindruckt u. schrieb „Der Nazarener“. Von d. jidd. Schriftsteller Shalom Alechem’s Roman wurde „The fiddler on the roof“ verfilmt. Ich habe es 2x im Theater u. 4x im Film gesehen. Von Bashevis Singer liebe ich besonders „The Moskat family“, aber auch seine anderen Bücher, die er alle in Jiddisch schreib. Umsonst hat er nicht den Nobelpreis bekommen. Es ist eine warme gefühlvolle Sprache u. manche Ausdrücke sind so treffend, dass sie übersetzt oft den Sinn verändern.
Schnorrer (Bettler) aber nicht einer, der auf der Straße steht. Ganev (Dieb) auch oft auf einen schlauen Menschen angewendet.
[…] Ich schicke Dir viele Pusserln, weil du so ein goldenes Mädel bist.
Deine alte Alice
Beilage: 2-seite Auflistung
Juden in Mistelbach vor Hitler u. während 1. Weltkrieg
Samuel Münz: geboren in Wadowice (Geburtsort des jetzigen Papstes). Mein Großvater, Getreide- und Mehlhandel, vor d. 1sten Weltkrieg in dem sein Sohn von einer ital. Granate zerrissen wurde, auch Holz- u. Kohlenhandlung, Wohnort seit Jugend in Mistelbach, Bahnstr. Ecke Gartengasse
Ignatz Brünner: Bruder meiner Großmutter, dessen Tochter in Laa mit Gustav Maneles verheiratet war, Hauptplatz: Getreide u. Mehlhandel
Gebrüder Eisinger Viehhändler, Hauptplatz
Hans Frischmann Schuhgeschäft u. Schuherzeugung, Hauptplatz, nach Buenos Aires ausgewandert
Kasmacher Gemischtwarenhandlung Hauptplatz
Weinberger ? Modengeschäft, Hauptplatz
Rosa Brünner ?
Fritzi Brünner, Lisl Brünner, Cilly Brünner
Jellinek Hausmaler
Eduard Riegelshaupt u. Johanna u. Kinder später nach Wien
Meta Engelsrath
Familie Feldsberg Weinhändler, Leo u. Ernst, Bahnhofstraße, wanderten nach Cali, Columbien, aus
Familie Kohn Holzhändler, Tochter Toni ist glaube ich nach Australien
Pisk Familie Holzhändler
Dr. Toch Arzt, Bahnhofstr.
Schnabel Zahnarzt
Walter Sachs u. Bruder Sax Karl
Familie Abeles später Wien
Teilweise hat das Stammbuch „Poesie“ meiner Schwester u. auch meines meinem Gedächtnis nachgeholfen. Meine Mutter hatte ein wunderschönes aus rotem Samt mit einem „goldenen“ (ich glaube aus Messing) Monogramm darauf. Das ist dem Zollbeamten so aufgefallen, daß er es gestohlen hat. Da waren alle Freundinnen meiner Mutter aus Mistelbach darin, natürlich auch die christlichen, aber bestimmt alle jüdischen. Schade, aber mir wurde schon mehr gestohlen. Immerhin kann ich mich an die 19 Familien erinnern. Ich glaube es gab ca 60 jüdische Personen. Die Feldsberg habe in Cali besucht u. mein Sohn die Frischmanns in Buenos Aires. Leider habe keine Adressen, wo jetzt alle sind. Ja, die Eisinger habe in New York gesehen.
11. Juni 1996
Liebe Lena,
Ich habe Dir vor 2 Tagen einen Brief geschrieben, in dem ich ein kleines Geldbörserl, das von den hiesigen Artesanos handgemacht ist, beigelegt und habe es einer Frau, die nach Miami fuhr, mitgegeben, damit es sicher ankommt. Ich hoffe, Sie haben es inzwischen erhalten.
Nun kam gestern das große Couvert mit der Geschichte vom Schmalzhoftempel, in dem ich meine „Konfirmation“ hatte und meinen Konfirmanden Unterricht erhielt. Heute nennt man es mit dem hebräischen Namen Bat Mitzwah. In dem selben Tempel oder Synagoge heiratete meine Schwester. Wir gingen oft zum Gottesdienst dort hin. Eine Zeit lang gehörten wir auch dem „Turnertempel“ an. Ich glaube es war eine Geldfrage, denn der Beitrag war in der Schmalzhofgasse teuer. Zu den hohen Feiertagen musst man sich einen Sitz kaufen und da mein Vater krank war und nur mehr auf den Verdienst meiner Schwester und mir angewiesen war, waren wir zu den Feiertag in einem Betsaal, ich glaube im Hotel „Münchnerhof“ auf der Mariahilferstrasse. Das ganze Jahr über stand jede Synagoge zu den Sabbath-Gottesdiensten und den kleineren Feiertagen natürlich für jedermann offen.
„Meist lasen wir in einem deutschen Gebetbuch schon zu Hause die sehr eindrucksvollen Gebete, die speziell für die jüdischen Frauchen und Töchter von der Frau eines Rabbiners verfasst wurden. Meine Mutter hatte dieses Gebetbuch zur Hochzeit von ihren Eltern bekommen und es liegt heute noch in meinem Nachtkästchen und wird von mir als Talismann auf jede Reise mitgenommen.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Steht in dem Buch von Dr. Genee nichts über die Synagoge von Mistelbach. Sie war einfach, aber sehr schön und stand in einem schönen Garten, in der Gartenstrasse, 5 Minuten von dem Haus meines Großvaters entfernt. In diesem Garten blühten so schöne Veilchen. Die Nazis sollen daraus einen Schweinestall gemacht haben.
Liebe Lena, es kommt mir vor, als ob ich Dich persönlich kenne, weil ich Dein Bildchen vor mir habe und immerzu Dein liebes Gesichterl anschaue. Ich zeige es auch allen meinen Freunden und erzähle Deine außergewöhnliche Geschichte und wie viel Zeit Du an Deine Forschungen verwendest und uns alten Überresten der österreichischen Juden damit eine große Freude bereitest. Ich als 80 Jährige darf wohl Du zu so einem lieben jungen Mädel sagen. Ja? […]
Nochmals vielen Dank für all Deine Mühe. […] Herzliche Grüße für Deine lieben Eltern und Schwester und ein festes Pusserl für Dich Deine
Alice G.
21.7.96
Liebe Leni,
Vor paar Tagen habe ich Deinen lieben Brief schnell, aber nicht vollständig beantwortet, was ich jetzt nachholen will. […] Für mich gibt es nur eine G’ttheit für die ganze Welt. Wir werden in die verschiedenen Religionen unserer Väter hineingeboren u. alle diese Religionen haben den Grundsatz „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“. Leider wird das nicht von allen befolgt.
„Zu den schönen Familienerinnerungen gehören die Freitagabende und besonders die Seder Abende und alle Feiertage. Zu Pessach essen und aßen wir immer nur Mazzot, aber separates Geschirr haben wir nicht. Mein seliger Mann sagte Jeder macht sich seinen „Schulchen Aruch“ selbst. Chanukka haben wir auch gefeiert und ich zehre noch heute an all den schönen Erinnerungen.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
[…] Der liebe G’tt behüte u. beschütze Dich u. Deine Lieben
Deine alte Jüdin A.
P.S. In Brünn lebte eine Schwester meines Vaters mit Familie. Sie kamen alle im KZ um.
Einige Briefe / Karten später:
30. Oktober 1996
Liebe Lena,
Die Brief v. 10.10. habe erst gestern bekommen und hat er sich mit meinem letzten Schreiben gekreuzt, in dem ich meiner Freude über die Rosh Hashana Karte zum Ausdruck brachte. […]
Nun will ich Deine Fragen beantworten: […] Wenn ich in Mistelbach war, sind wir oft am Kirchenberg gewesen u. auch öfters in die Kirche gegangen mit unseren Nachbarn. Da habe ich nichts gemerkt. Aber als ich schon ein junges Mädel war, ging ich zu Ostern bei der Gumpendorfer (VI. Bezirk) Kirche vorbei und angezogen von der schönen Musik ging ich hinein u. da begann der Pfarrer seine Predigt in der er furchtbar auf die Juden schimpfte, weil sie Christus gekreuzigt hätten. Ich traute meinen Ohren nicht und ging ganz betroffen nach Hause. Im Jahr 1938 u. später habe ich nicht verstehen können, daß der Papst die Mörderei zuläßt. Aber später habe ich erfahren, dass viele Juden in chr. Klöstern versteckt waren u. dadurch gerettet wurden.
„Ich habe mich immer sehr jüdisch gefühlt, aber ebenso habe ich Wien und Österreich geliebt. Ich habe auch viel christliche Freundinnen gehabt und in der Kindheit keinen Antisemitismus zu spüren bekommen. In Mistelbach gingen wir mit den Nachbarn auch manchmal in die Kirche, aber wir glaubten weder an den Krampus, Christkind oder Jesus, d.h. wir haben und nicht viel den Kopf darüber zerbrochen, wir haben es einfach als selbstverständlich genommen, dass nicht alle Menschen die gleiche Religion haben.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
„Unseren Nachbarn taten wir immer schrecklich leid, daß wir nicht Weihnachten feierten und sie luden meine Schwester u. mich immer am 24/12 zum Christbaum Anzünden ein. Meine Großmutter sah es nicht gern, aber uns gefiel es sehr gut.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
[… H]ier erzählt man den Kindern im Religionsunterricht den Hass aus obig angeführtem Grund, aber G.s.D. ist hier kein spürbarer Antisemitismus und ich bete, es soll so bleiben. Denn in Argentinien, wo sich die ärgsten Nazis nach dem Krieg geflüchtet hatten, herrscht schrecklicher Antis., wie Du sicher durch TV informiert bist.
Ich bin schon sehr aufgeregt, denn Willie, mein Sohn, kommt am 9. Nov. hier an und bleibt 3 Wochen hier. Ich freue mich natürlich riesig, hoffe er kommt gesund hier an und wird eine schöne Zeit hier verbringen. Ich freue mich schon auf das angekündigte Foto. Willie wird sicher auch viele Fotos machen u. dann bekommst Du auch welche. Schnell ist das Jahr vergangen u. wieder bin ich um ein Jahr älter. Aber ich bin dankbar, daß ich noch unabhängig bin u. bitte den Allmächtigen noch länger so zu bleiben.
Alles Gute für Dich und die Deinen Deine Alice G.
Einige Briefe und Karten später:
27. Februar 1997
Liebe Leni,
Ich spürte es, dass ein Brief von Dir unterwegs ist und war daher gar nicht so überrascht, als ich gestern Deinen Brief erhielt, für den ich Dir herzlichst danke. Auch vielen Dank für die 2 schönen Fotos. […]
Nun zu den Fragen:
1. Eine meiner besten Freundinnen in Wien war Christin. Sie hieß Irene Stopka. Sie arbeitete bei einer jüd. Firma. Nach Hitler [zur Hitlerzeit] wollten ihre Chefs ihr den Laden mit allem was darin war schenken – sie nahm es nicht an, weil sie sagte, das würde ihr kein Glück bringen. Statt dessen suchte sie sich in England, so wie ich, eine Stelle im Haushalt, denn sie wollte in meiner Nähe sein. Solange sie noch in Wien war, führte sie das Baby meiner Schwester im Park spazieren, was jüd. Eltern verboten war. Als wir dann in England während des Krieges erlaubt waren, auch andere Arbeit anzunehmen, arbeitete sie in einem Büro und verbrachte jede freie Minute bei uns. Sie liebte meine Familie und meine Mutter sagte oft: „Ich habe 3 Töchter“, denn Irene war ihr so lieb geworden wie wir. Als ich dann nach Süd-Amerika weiter wanderte, setzte sie sich mit einem Onkel in Brasilien, der gerade Witwer wurde, in Verbindung. Der ließ sie nach Sao Paulo kommen u. sie heirateten dort. Sie dachte wir sind in Nachbarländern u. werden uns daher wiedersehen können. Sie machte sich von den Entfernungen keinen Begriff. Wir blieben in regem Briefwechsel, bis eines Tages keine Antwort mehr kam. Ich war sehr besorgt u. schrieb ans Österr. Consulat in S.P. Dann kam eines Tages ein Brief v. einer Öst. Jüdin, mit der sich Irene im Geheimen traf u. sie bat, sie solle mir mitteilen, dass ihr Mann ein großer Nazi war und ihr verbot, mit Juden zu verkehren. So durfte ich ihr auch nicht mehr schreiben und war sehr traurig über das häßliche Ende dieser Freundschaft. Hier zählt eine christliche Österr. zu meinen besten Freundinnen. Wir mögen uns beide sehr gerne. Sie ist auch Witwe. – In diesem Moment läutete mein Telefon und es war meine Freundin Elfi Plefke. Ich sagte ihr, dass es Gedankenübertragung war.
2. Da ich schon im Juli od. August auswanderte, war das Gesetz mi dem gelben Judenstern noch nicht.
[…] Alles Liebe und Gute wünsche Dir und Deinen Lieben Deine Alice G.
Ein paar Briefe später:
21. April 97
Liebe Leni u. Familie,
Ich habe mich riesig mit Eurer so lieben u. herzlichen Karte mit den guten Wünschen zu Pessach gefreut und danke Ihnen allen dafür. Für mich sind alle Feiertage mit wehmütigen Erinnerungen verbunden. Wir haben den Sederabend immer in Mistelbach im Haus Brünner (Schwiegereltern v. Gustav Maneles aus Laa) gefeiert und war dort alles nach strengster Vorschrift. Später, als wir schon größer waren u. keine Ferien mehr hatten, fand der Sederabend bei uns in Wien statt.
„Als mein Vater gelähmt war, konnten wir nicht mehr zu den Großeltern, so feierten wir es in Wien bei uns zu Hause.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
In meinem Eheleben zählten die Sederabende hier in Peru zu meinen schönsten Erinnerungen. Wir hatten immer viel Besuch, leider leben die meisten davon nicht mehr. Einmal hatten wir ein Ehepaar, die wirklich aus Ägypten auswanderten (nach Wien) und da sie zufällig geschäftlich nach Lima kamen, luden wir sei ein. Damals kamen die Tonbänder gerade auf, und da kam Willie auf die Idee, den Seder auf Tonband aufzunehmen. So habe ich die Stimmen meines Mannes, Willie damals ca 14 Jahre alt u. andere erhalten u. ist dieser Sederabend auf Tonband ein Schatz für mich. Im Jahr 1967 einen Tag vor Pessach starb meine Mama u. habe ich das Jahrzeitlicht angezündet. Heute Abend bin ich bei Freunden zum Seder eingeladen. Die Eltern v. denen waren schon unsere Freunde. Morgen gehe ins Altersheim, wo viele einsame Menschen sind, die keine Familie hier haben. Gestern hat mich Willie angerufen und mit erzählt wie krank mein Cousin, den ich besonders gern habe, ist. So bleibt kaum mehr jemand v. den Grünwalds meiner Generation übrig. Such is life! […]
Alles Liebe u. Gute für Dich u. Deine Familie
Deine Alice G.
Einige Briefe später:
18. Juli 1997
Liebe Lena,
War das eine Überraschung als das große Couvert ankam. Vielen Dank für das interessante Buch über Brünn. Die älteste Schwester meines Vaters lebte mit ihrer Familie in Brünn. Sie waren in Holicz in der Slowakei geboren. Sie hießen Klinger. Mutter u. Vater Klinger kamen um, die Söhne u. Töchter retteten sich in das damalige Palästina. Leider sind sie inzwischen auch gestorben, so wie es ja bald mehr keine Holocaust Überlebenden geben wird. Mein Freundeskreis wird leider immer kleiner. […]
Du willst wissen wie ich meine Freizeit als junges Mädchen verbrachte. Lesen, Theaterbesuche, Turnen, Ausflüge in den Wienerwald mit dem jeweiligen Boy-friend u. anderen Freunden.
„Als ganz junges Mädel las ich gerne romantische Bücher und die speziellen Mädchenbücher wie „Der Trotzkopf“, den schon meine Mutter und Millionen anderer Mädchen vor mir gelesen haben. […] Ich ging in den Arbeiterturnverein, weil die Klassen in dem Turnsaal von der Bürgerschule vom Loquai-Platz stattfanden und das bei uns in der Nähe war. Später, als ich schon im Büro arbeitete, ging ich auf der Mariahilferstrasse in eine private Turnschule, wo ich ein christliches Mädchen, Irene Stopka, kennen lernte, die dann meine beste Freundin wurde.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Reisen konnten wir uns nicht leisten, manchmal sind wir zu Fuß bis in den Wienerwald gegangen, um die 35 Groschen zu ersparen. „Wir fuhren mit meinen Eltern nur ein einziges Mal nach Gmunden im Salzkammergut, sonst nur nach Mistelbach.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Als ich dann schon als Büro Angestellte verdiente, bin ich mit einer Studentengruppe billigst nach Italien (it. Riviera, Venedig) gefahren u. in 1937 zur Weltausstellung nach Paris – auch verbilligt.
„Ich hatte durch meinen Chef Rekommendationen zu einem Verwandten mitbekommen, der mich ins Mistinguett Folies Bergère ausführte, wo ich die berühmte Josephine Baker tanzen sah. Mehr als 14 Tage Urlaub bekam man nicht, also blieben wir nur eine Woche in Paris und die zweite Woche in der Normandie, genau dort wo im zweiten Weltkrieg die Invasion der Alliierten stattfand. In 1937 in Paris nahm ich mir vor, in 1938 nach London zum Urlaub zu fahren, nichts ahnend, dass ich es als armes Flüchtlingskind tun musste.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Da bist Du in Deinen jungen Jahren schon weiter gekommen. Aber wir waren trotzdem sehr zufrieden, damals haben junge Leute keine Ansprüche gestellt. Ich hätte gern studiert, aber es war nicht möglich. Mein Vater war 5 Jahre gelähmt und starb am 6. Juni 1934 und meine Schwester und ich mussten den Haushalt finanzieren. Ich war 18 Jahre alt, als er starb. Das Radio kam erst knapp vorher mit Kopfhörern. Was hat sich in meinem Leben alles verändert. Jetzt landete ein Apparat auf dem Mars, was haben die Menschen alles erfunden – nur wie man in Frieden lebt noch nicht. Hier ist es auf einmal wieder politisch sehr unruhig geworden und ich habe Angst was noch alles hier u. auf der Welt passieren wird. Ich bin zwar keine Pessimistin, aber wenn ich am Cable TV die Nachrichten von den verschiedenen Ländern sehe u. höre, werde ich traurig. Gestern habe ich den Film „Europa, Europa“ gesehen. Was für ein Wahnsinn so ein Krieg ist.
„Ja, ich wuchs im „Roten Wien“ auf und wir waren alle Sozialdemokraten. Die anderen Parteien waren ja schon nationalsoz. angehaucht[. …] Unsere Schule und ihr Programm war ausgezeichnet und viel, viel besser als die in der Kriegs- und ersten Nachkriegszeit. Nicht nur, dass der Unterricht vollkommen kostenlos war, hatten wir sehr gute unbestechliche Lehrerinnen und bekamen alles moderne Schulmaterial wie Bücher, Hefte, Bleistifte, Federn und Radiergummis gratis von der Gemeinde Wien. Natürlich war der Unterricht und die Bücher „rot“ gefärbt und ich erinnere mich, dass wir eine große Maifeier hatten, bei der ich ein sozialistisches Gedicht aufsagen musste, das ich noch heute kann. Im Turnverein und in der Schule sagen wir sozialistische Lieder. Meine Mutter sah es aber nicht gerne, dass wir uns mit Politik befassten.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
„An den ersten Schultag kann ich mich gut erinnern; ich bin mir sehr wichtig vorgekommen, weil ich die jüngste war. Ich wurde erst im Dezember 6 Jahre alt und brauchte daher vom Schularzt eine spezielle Genehmigung. Bei uns in der Stumpergasse wohnte eine Lehrerin, die mich jeden Morgen in die Mittelgasse in die Volksschule mitnahm. Sie hieß Zischinsky und wohnte direkt über uns. Aber sie war erst in späteren Klassen meine Lehrerin, die erste Lehrerin hieß Frau Muther und war sehr lieb. Es war eine Mädchenschule, gemischte Schulen gab es nicht. Die Bürgerschule war auf einer Seite für Mädchen, der Schulhof durch eine Mauer getrennt, denn auf der anderen Seite waren die Buben. Der Unterricht war wirklich sehr gut gestaltet und interessant und wir gingen alle gern zur Schule. […] In der Handelsschule gefiel es mir nicht ganz so gut. Diese Handelsschule hieß früher „Erzherzog Rainer“ und später Globushandelsschule. Die Materie interessierte mich nicht sehr, ich wollte ja viel lieber Naturwissenschaften studieren.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
„[I]n der Bürgerschule konnten wir uns aussuchen, ob wir in die Klasse gehen wollten, wo Französisch unterrichtet wurde oder in die englische. Ich stimmte für letztere und später nahm ich noch privat Stunden. Stenographie (Einheitskurzschrift) lernten wir schon in der Bürgerschule und dann selbstverständlich in der Handelsschule. Ich mache mir heute noch Notizen in Kurzschrift.“ (Alice Grünwald, Archiv des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten)
Ich muss dankbar sein, dass ich noch alleine meinen Haushalt führen kann (Kunststück für 1 Person). Ich habe jetzt ein neues Mädchen bei mir wohnen, weil die andere geheiratet hat. Sie arbeitet in einem Büro, geht zeitig weg und geht zeitig schlafen, so bin ich nachts nicht alleine.
[….]
Herzlichst Alice Grünwald