Artikel: Lügen in Laa

Dieser Artikel erschien im Oktober 1992 in dem Magazin „Das Jüdische Echo: Zeitschrift für Kultur & Politik“. Die Situation hat sich heute insofern grundlegend verändert, als es ein deutlich sichtbares Zeichen im Herzen der Stadt gibt, das als kräftige Aussage dahingehend verstanden werden kann, dass sich die Stadt gegen das Verdrängen und Vergessen entschieden hat.
Dies ist der älteste Artikel auf dieser Seite – er gewann damals den einen Aufsatzwettbewerb, den das Jugendmagazin des ORF („X-Large“) und die Zeitschrift „Jüdisches Echo“ gemeinsam durchführten.

Lügen in Laa

Ich möchte Dir, werter Leser, eine Geschichte erzählen, die wahr ist, und ich hoffe, Du fühlst dabei ähnlich wie ich es tat. Sie handelt von einer großen Lüge. Einer Lüge die fast stark genug war, um die Erinnerung an 26 Familien auszurotten.

Jeder heute weiß vom Holocaust. Es ist uns allen bekannt — oder sollte es sein –, was damals, vor 50 Jahren, geschah, Wir wissen, daß das alles in unserem Land geschehen ist, und keiner von regem Verstand kann und wird die Verbrechen leugnen, die in Mauthausen und all den anderen Lagern geschehen sind. Doch woher kamen sie alle, diese Millionen? Fragt man den Durchschnittsbürger, so wird er wohl antworten: „Aus Polen und aus den großen Städten, wie z.B. Wien.“ Entspricht aber die gängige Meinung auch der Wahrheit?

Doch wieder zurück zu der eigentlichen Geschichte. Sie handelt ausschließlich in Laa, einer Kleinstadt an der Thaya, die im nördlichsten Niederösterreich und direkt an der Grenze zur Tschechoslowakei gelegen ist. Die Menschen gehören jenem gemütlichen Schlag an, der im Weinviertel beheimatet ist. Eine geringe Tendenz zur Ausländerfeindlichkeit in bezug auf Tschechen und Polen, die seit der Grenzöffnung auch den Grenzübergang hier passieren, ist festzustellen, allerdings in kaum ausgeprägtem Maße. Keiner würde ahnen, daß es hier etwas geben würde, das die wenigsten der jungen Leute oder der Leute, die nach 1938 geboren sind, wissen. Jahrzehntelang wurde hier eine gewaltige Lüge verbreitet. Es hieß: „Juden? Nein, Juden hat es bei uns nie gegeben.“ Welche riesige Lüge! Und tatsächlich wäre es den Verbreitern dieser Unwahrheit fast gelungen, so lange durchzuhalten, bis keiner mehr alt genug sein würde, um zu erzählen. Zu berichten von den wahrscheinlich 26 jüdischen Familien, die hier bis 1938 lebten, die jedermann kannte. „Jeder hat sie gekannt, und jeder hat bei ihnen eingekauft“, das sagen viele, die sich entschließen, doch zu reden. Sogar die Synagoge hat es gegeben und immer einen Rabbiner. Es waren angesehene Leute, und doch diese Lüge.

Ich wette, daß 80 Prozent der Laaer keine Ahnung von jenem Teil der Vergangenheit dieser Stadt haben. Woher sollten sie es auch wissen? Diese Lüge wurde ziemlich flächendeckend verbreitet. Es gibt ja auch bloß zwei schriftliche Quellen (von jeweils 3 bis 4 Zeilen in Büchern aus dem Anfang unseres Jahrhunderts), in denen die Laaer Jüdische Gemeinde erwähnt wird. Ruhmreich ist aber auch nicht, was als fast einziges den Eintritt in die Literatur gefunden hat: die Tatsache, daß es in Laa schon zwei Pogrome gegeben hat, nämlich 1294 und 1337. Nun wäre es beinahe auch noch zum zweiten Mord – durch Leugnen und anschließendes Vergessen – gekommen.

Die Menschen, die reden, haben zum Teil Angst. Man sollte glauben, daß man in einer Demokratie alles sagen darf, ohne sich fürchten zu müssen. Doch ich habe gelernt, daß das nicht wahr ist. So ist eine etwa 65 Jahre alte Frau zwar bereit, sich zu erinnern, bittet aber, daß das Pocket-Memo abgeschaltet wird, als sie erzählt, daß eine Bäuerin von einem abgelegenen Gut bei einem Juden einkaufen wollte und mit einem Schild um den Hals durch Laa getrieben wurde. Was darauf gestanden ist? Auch jetzt getraut sie sich nicht, den Spruch zu sagen. Nicht nur in Wien, auch in Laa ist das geschehen. Und trotz allem: „Nein, Juden hat es bei uns nie gegeben!“ Auch durch Reibaktionen haben sich die Nazis in Laa „ausgezeichnet“. Ich kann noch nicht viel dazu sagen, doch wie es aussieht, dürfte man auch etwas die Hände Verätzendes ins Wasser getan haben. Gerade deshalb diese Lüge?

Die Beziehung zu den Christen war, wie es scheint, immer sehr freundschaftlich. Die Kinder gingen zusammen zur Schule, die Bauern brachten ihre Ernte zu den jüdischen Fruchthändlern, und „wenn man etwas besonders Schönes hat haben wollen, ist man zum jüdischen Kaufmann gegangen und hat das nach und nach abgestottert.“ Sogar von zwei jüdisch-christlichen Hochzeiten wurde mir bis jetzt berichtet.

Letzte Woche habe ich einige Gräber am Mistelbacher Jüdischen Friedhof gefunden, in denen einige „meiner Leute“ (wie ich sie zu nennen pflege, denn außer mir kümmert sich doch kein Mensch um sie) ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Keiner kann dieses Gefühl beschreiben, wenn man zum ersten Mal die Namen in Stein gemeißelt findet, von denen man bis jetzt keine einzige schriftliche Bestätigung gehabt hat. Dieses Gefühl läßt sich nicht beschreiben; am liebsten hätte ich jeden einzelnen Grabstein umarmt. Viel ist es noch nicht, was ich aus der Dunkelheit hervorholen konnte. Mein Wissen sieht viel kompletter aus, als es ist. Es gibt noch so unendlich viele Lücken, und vieles werde ich nie aufdecken können. Doch ich werde mein Bestes geben, denn ich kann diese Lüge nicht mehr hören.