Mistelbach

Den Toten den Namen zurückgeben: Die Wiederherstellung des Jüdischen Friedhofs Mistelbach

in Zusammenarbeit mit Benjamin Smith-Mannschott
(erschienen 1998 in der Zeitschrift „David“)



An der Zufahrtstrasse zu einer Stadtrandsiedlung liegt in Mistelbach der jüdische Friedhof. Die Siedlung besteht aus mehrstöckigen Häusern. Auf der anderen Seite des Zaunes, der den Friedhof vom lebendigen Treiben der Siedlung in eine Richtung abgrenzt, liegt ein Spielplatz. Doch der Friedhof ist ein sehr stiller Ort. Er strahlt eine friedvolle Atmosphäre aus, die ich spüre, wenn ich den Hauptweg entlang gehe.

Trotz der Lage kann man von einer gewissen Abgeschiedenheit des Friedhofs sprechen. Von der Straße her ist er kaum zu sehen. Das davorgebaute Haus verdeckt ihn. Nur ein kleines Schild neben der Türe zeugt von seiner Existenz. Die Tür ist alt. Man muß aufpassen, daß man den Schlüssel nicht ganz durchs Schloß schiebt. Für den ungeübten Besucher ist es sicher nicht ohne Mühe aufzuschließen. Ist man eingetreten, so sieht man sich auf zwei Seiten von Mauern umgeben. Wenige Schritte und man ist an das Ende der Hauswand zur Rechten angelangt. Gerade aus stehen Mülltonnen. Zeitweise lebte in den letzten Jahren eine Frau in dem Haus. Sie hätte sich um den Friedhof kümmern sollen. Doch sie und ihre Schwester sind „beim Gras mähen so von Weinfliegen gebissen worden.“ — Das muß man verstehen! Geht man nun nach rechts, so ist man mit einem größeren Schritt schon vor dem Aufgang zum Friedhof. Die Eisentür ist einfach und hat kein Schloß. Die dahinter liegenden Stufen sind in den Jahrzehnten zerbröckelt. Über die Stiegen, dann 2 Schritte und man steht wieder vor einer Tür – Holz mit Eisenrahmen. Die Bewohnerin des Hauses hat früher auf dem Platz rechts, zwischen Stufen und Holztür, Gartensesseln aufgestellt gehabt. Sie sind jetzt verschwunden. Das Haus steht zur Zeit leer.

Durchschreitet man die Holztüre, so sind gleich rechts die Ehrengräber[1] . Jemand hat dort Ribiselsträucher gepflanzt. Wußte er nicht, daß ein Friedhof kein Obstgarten ist? Heute sind sie nicht mehr da. Man könnte dies als gärtnerische Maßnahme unsererseits bezeichnen. Der Friedhof wirkt nicht groß, doch besteht er aus 112 Gräbern. Die Bäume sind alt und geben auch am heißesten Sommertag kühlen Schatten. Es gibt viel zu ahnen, zu sehen und erfahren.

Rechts setzen sich die Gräberreihen fort. Links ist zunächst noch freier Platz. Geht man den Weg hinauf, so fällt auf, daß hinter dem Gräberfeld und vorallem links hinter den Gräbern noch viel freier Platz ist. Doch wer konnte bei Planung des Friedhofs ahnen, daß die Geschichte der jüdischen Gemeinden im Bezirk Mistelbach im Jahre 1938 ein so tragisches Ende finden würden.

Der Friedhof hat einige Besonderheiten, die erwähnenswert sind. Die Steine sind von verschiedensten Materialien, Größen und Aussehen. Einige haben Verzierungen. Am Grab von Heinrich und Henriette Blau befindet sich die Darstellung einer Trauerweide. Auf den Gräbern von Gottfried Kohn, Jakob Kohn und Heinrich Kohn befinden sich jeweils die segnenden Hände der Cohanim. Einige Steine ziert auf den Seiten eine Blumenranke. Ein Davidsstern schmückt das Grab der mit 2 Monaten verstorbenen Mizzi Thein. Er ragt, wie die Schrift, aus dem Stein. Er ist ausgefüllt und hat in der Mitte ein rundes Loch.

Die Menschen die in Mistelbach begraben wurden stammten aus einem relativ großen Einzugsgebiet, im Besonderen wenn man die damaligen Transportmöglichkeiten in Betracht zieht. Folgende Herkunftsorte kann man den Grabinschriften entnehmen: Ernstbrunn, Gnadendorf, Groß Krut, Hautzendorf, Laa a. d. Thaya, Mährisch Weisskirchen, Mistelbach, Niedersulz, Paasdorf, Schrick, Wolkersdorf.

Die letzte Ruhestätte auf der rechten Seite ist die einzige Gruft des Friedhofs. Es handelt sich hierbei eigentlich um drei nebeineinanderliegende Gruften, wobei nur der mittlere einen Grabstein trägt und nur zwei davon belegt sind. Zuerst wurde Albert Drill aus Laa a. d. Thaya hier zur Ruhe gebettet. Er starb 28-jährig als er im Keller des neuen Hauses seiner Eltern die Heizung kontrollieren wollte. Aus der defekten Anlage war Gas geströmt und so erstickte Albert. Der Spruch, den seine Eltern auf dem Grabstein eingravieren ließen drückt ihre Trauer wohl am Deutlichsten aus: „Die Stütze brach, der einz[i]ge Sohn, die Hoffnung liegt im Grabe schon.“ Seine Mutter Dorothea starb 1938 und liegt neben ihrem Sohn bestattet. Das „In Memoriam Ignaz Drill“ hat Dorotheas Neffe Joseph K., der in Amerika lebt, anbringen lassen. Ignaz Drill war im achten Transport unter der Transportnummer 559 von Österreich nach Theresienstadt deportiert und von dort aus am 26. 9. 1942 unter der Transportnummer 1807 wahrscheinlich nach Maly Trostinec[2] weitertransportiert worden. Die Shoa begegnet uns auch noch an 2 anderen Stellen des Friedhofs. Joseph K. hat auch die Namen der ermordeten Mitglieder von zwei befreundeten Familien in Stein meißeln lassen. Am Grab von Leopold Edelhofer finden wir die Inschrift „Vergast in Auschwitz: Franziska 62, Helene 41, Fred 11, Elfi 6“. Auf Philipp Längers Grabstein kann man lesen: „In KZ-Lagern gestorben: Familie Ferdinand Länger, Familie Josefine Max geb. Länger u. Gisela Länger.“

Joseph K., geboren in Gaweinstal, hat aber noch andere Spuren am Mistelbacher Friedhof hinterlassen. Jedes Mal wenn er nach dem Krieg die alte Heimat besuchte, hat er an den Grabsteinen seiner Großmutter Julie Kolb, sowie von seiner Tante Dorothea und verschiedenen befreundeten Familien bedruckte Klebestreifen angebracht. Er hinterließ sie als Zeichen des Gedenkens und auch für eventuelle andere Friedhofsbesucher festzuhalten, daß er hier gewesen war – überlebt hatte. Diesem Beispiel sind vergangenem Sommer auch die Nachfahren von Moriz Feldsberg gefolgt, als sie mit schwarzer Farbe auf dessen Stein vermerkten: „Deine Enkeln Daniel Isabel Feldsberg Urenkeln 30/6/98/ Kolumbien“. Sofern es sich hierbei nicht um eine Unsicherheit in der deutschen Sprache handelt, kann man davon ausgehen, daß zwei Enkeln mit ihren Kindern die weite Reise von Südamerika zum Grab ihres Großvaters unternommen haben.

Auf der Grabplatte von Karl Eisinger (Kaffeehausbesitzer in Wien; in Mistelbach geboren) befindet sich eine Unmenge von Steinen. Sie liegen, durch Wind und heruntergefallene Äste verschoben, wie wirr auf dem Grab. Als ich Lilly K. (Karl Eisingers einzige Tochter) bei einem Amerikaaufenthalt traf, fragte ich sie welche Bewandtnis es mit ihnen hätte. Als Frau K. vor vielen Jahren die Ruhestätte ihres Vaters aufsuchte (er starb als sie 14 war[3]), legte sie aus Steinen in großen Buchstaben die Worte „Love, Lilly“. Auch das zeigt wie tief die Verbindung vieler Nachkommen mit den dort Begrabenen ist und läßt erahnen wie schmerzhaft die weite räumliche Entfernung für sie sein muß.

Der älteste Stein am Mistelbacher Friedhof dürfte der von Mirjam Bauer sein (gestorben 1889). Eventuell ist das Grab von Emanuel Hauser noch um ein paar Jahre älter. Es handelt sich bei diesem Grabdenkmal um das einzige aus Sandstein. Es ist sehr verwittert und der Name ist nur noch zu manchen Tageszeiten zu entziffern, wenn die Licht- und Schattenverhältnisse günstig sind. Sicher ist, daß er im selben Jahrzehnt wie Mirjam verstorben ist. Es ist leicht möglich, daß es sich auch bei ihm um ein Kind handelt, doch sein Geburtsdatum ist schon zu sehr zerstört um dies sicher sagen zu können. Der Grabstein von Emanuel Hauser ist in der Mitte waagrecht abgebrochen. Es ist anzunehmen, daß dies Menschen getan haben, denn auch der Grabstein des 1-jährig verstorbenen Paul Isak Abeles, welches nur durch das Grab von Friedrich Schmitz von Emanuel Hausers Grab getrennt ist, hat so klare Bruchlinien, daß man auf menschliches Einwirken schließen kann. Den Grabstein von Friedrich Schmitz fanden wir sogar am anderen Ende des Friedhofs. Es ist der kleine, dünne Stein eines Babys, das nach einer Woche verstarb. Er ist so leicht, daß ich ihn unter dem Arm an seinen ursprünglichen Platz zurücktragen konnte. Für harte Stiefel war es sicher ein Leichtes ihn umzutreten. Mehrere andere Grabsteine weisen Absplitterungen auf, die auch nur von den Nazischergen stammen können. Sogar massiver Marmor wurde zum Absplittern gebracht. Am Deutlichsten läßt es sich allerdings am Grabstein von Religionslehrer Max Fleischmann und seiner Frau Johanna ablesen, wie hier gewütet wurde. Der kleine massive Sockel wurde nach hinten hin umgeworfen und der kleine graue Stein ist in der Mitte auseinandergeschlagen worden. Sogar die Gedenktafel für die gefallenen Soldaten des ersten Weltkriegs wurde anscheinend von Menschenhand beschädigt. Die Tafel ist in zwei Teile zerbrochen. Der Teil der Mauer an der sie lehnt kann nicht derjenige sein, wo sie aufgehängt war. Die Mauer hat einen vorspringenden Sockel. Über dem Sockel ist die Mauer kürzer als die Tafel es in unbeschädigtem Zustand war. Wir konnten aber auch an keiner anderen Stelle der Friedhofsmauer Haken oder Löcher finden, die verraten würden, wo die Tafel einmal angebracht war.

Auf dem Friedhof fehlen auch zwei Grabplatten und zumindest ein Stein. Manche Gräber haben keine Einfassung und so fehlen wahrscheinlich noch mehr Grabsteine. Es befindet sich nämlich nur eine Einfassung ohne Stein auf dem Friedhof, doch es fehlt auch ein Kindergrab. Jene ist zu groß, daß sie für ein Kind gemacht worden sein könnte. Ein weiteres Indiz ist die freie Stelle auf der rechten Seite in der Nähe der Kindergräber. Dort wurde auch am meisten verwüstet. Frau D.[4] erzählte mir, daß ein Nazi Grabsteine für seinen Gartenweg verwendet hätte. Nach der Aussage von Lilly K.[5] war der Friedhof geschändet und manche Steine mit Hakenkreuzen beschmiert als sie vor ihrer Flucht noch einmal das Grab ihres Vaters besuchte. Eine ehemalige Mistelbacherin, die heute in Peru lebt, schrieb mir folgendes: „Meine Großeltern Samuel und Charlotte Münz lebten in Mistelbach in der Bahnhofstraße Ecke Gartengasse. […] Sie hatten 4 Kinder. Der jüngste Sohn Julius wurde im ersten Weltkrieg von einer italienischen Granate zerrissen. […] Der Erstgeborene Moritz starb schon als Kind. Er, Julius und meine Großmutter liegen am Mistelbacher Friedhof begraben. Als ich im Jahre 1964 Mistelbach besuchte fand ich die Grabsteine nicht mehr [vor].“[6]

Erwähnenswert ist der Grabstein von M. Steiner. Er ist eindeutig nicht von einem Fachmann gemacht, sondern von einem Laien aus betonartiger Masse gegossen worden. Die Schrift wurde entweder mit einem dünnen Nagel nur sehr oberflächlich in den Beton geritzt oder eine Schicht ist abgefallen und nur noch die am Tiefsten eingravierten Buchstaben sind erkennbar. Nur noch der erste Buchstabe des Vornamens und der Nachname konnten entziffert werden. Da die Daten völlig verschwunden sind, können wir nur Vermutungen anstellen. Zuerst dachten wir es sei ein Armengrab. Doch ein Detail spricht dagegen: der Sockel ist aus dem selben hellgrauen Stein wie die ihn umgebenden Grabsteine. Diese sind keinesfalls als ärmlich zu bezeichnen. Also nehme ich an, daß der oder die Begrabene so kurz vor oder nach dem Anschluß gestorben sein könnte, daß der Steinmetz die Arbeit am jüdischen Friedhof nicht mehr fortgesetzt hat. Oder aber, daß ein Überlebender der Shoa zurückkam, nur mehr den Sockel des Grabes seines Verwandten oder Freundes vorfand und aus irgendeinem Grund nicht die Möglichkeit hatte einen Fachmann mit der Anfertigung eines neuen Steines zu beauftragen.

Der eigentliche Anstoß sich um den Mistelbacher Friedhof zu kümmern erfolgte im Sommer 1993. Im Zuge meiner Recherchen über die jüdische Gemeinde von Laa a. d. Thaya war ich mit Karola Z., einer gebürtigen Laaerin die jetzt in Israel lebt, in Kontakt gekommen. Nach einem Besuch meinerseits in Israel verbrachte sie 1993 auch einige Tage bei mir in Laa. Während ihres Aufenthalts besuchte sie auch mit mir und meinem Vater den Mistelbacher Friedhof, wo ihre Großeltern Lina und Leopold Blau begraben sind. Obwohl beide vor Karola Z.’s Geburt verstorben waren hat sie doch eine besonders innige Beziehung zum Denkmal ihrer Großeltern. (Ihre Eltern besitzen keine bekannte Ruhestätte, da sie in Auschwitz ermordet wurden.) Wir waren vom wild wuchernden Gras und Unkraut auf den Gräbern und Wegen schockiert und schworen uns, daß nie wieder jemand den Friedhof in diesem Zustand vorfinden sollte.

Die ersten Jahre beschränkte sich unsere Arbeit rein auf die gärtnerische Seite des Wiederherstellens. Vorallem mein Vater hat hierbei sehr harte Arbeit geleistet. So manchen Grabstein hat er von einem ihn völlig verdeckenden Busch befreit. Kleinere Grabsteine, die umgefallen waren, hat er wieder aufgerichtet und mit der beschriebenen Seite nach oben an den Sockel gelehnt. Dies ist natürlich nur bei Steinen von nicht mehr als 1 Meter Höhe möglich, da alle größeren hunderte von Kilos wiegen. Bäume wurden abgeschnitten, die drohten Grabsteine umzuwerfen. Mit Akkugrasscheren haben wir wieder und wieder das Gras auf den Gräbern geschnitten. Die Gruft der Familie Drill wurde vom daran nagenden Moos befreit. An mehreren Stellen pflanzten wir Efeu und Immergrün. Und wir erfüllten auch Frau Zuckers Wunsch auf dem Grab ihrer Großeltern jeden Sommer Blumen anzupflanzen. Der Stein von Heinrich und Henriette Blau drohte umzukippen. Also stellte ihn mein Vater mit einer Eisenkeilen senkrecht. Doch nicht nur von gärtnerischen Gesichtspunkt war der Friedhof in einem Zustand, der nach Verbesserung rief. Viele der Grabsteine waren durch Umwelteinflüsse in den vergangenen Jahrzehnten sehr beeinträchtigt worden. Knapp die Hälfte der Steine sind aus schwarzem Marmor oder Granit. Diese Materialien verwittern nicht und sind nach 60 Jahren noch so gut leserlich wie an dem Tag als sie bearbeitet wurden. Doch die anderen Steine waren schwer oder nicht mehr zu lesen. Im Sommer letzten Jahres begannen deshalb mein amerikanischer Freund Benjamin und ich Grabsteine zu restaurieren. Wir mußten uns erst eine Möglichkeit einfallen lassen die Steine zu reinigen. Schlußendlich kristallisierte sich folgender Arbeitsablauf heraus: Zuerst muß der Stein mit Reibbürsten sehr kräftig abgerieben werden. Dadurch entfernt man die Flechten, welche sich in kleinen Teilchen über den Bürstenden verteilen. Hat man kräftig und lange genug gebürstet so kommen zumindest die großen Buchstaben des Namens ans Tageslicht. Nun kann man an die Feinarbeit schreiten. Flechten die sich durch die Bürste nicht gut genug entfernen ließen, weil sie sich in einem Buchstaben eingenistet haben, können sehr gut durch Reiben und Kratzen mit einem dünnen Zweig entfernt werden ohne dadurch den Stein zu beschädigen. Mit dem Ästchen ist es meistens auch möglich die feiner geschriebenen Lebensdaten von den Flechten zumindest teilweise freizulegen. Für den nächsten Arbeitsschritt benötigt man eine Ale. Vorsichtig kann man damit die Buchstaben von Flechtenresten und Schmutz säubern. Die kleinen Buchstaben kann man damit am Besten – natürlich auch mit größter Vorsicht – freikratzen. Ist dies erledigt, so braucht man ein Stück Stoff um den Grabstein noch ein letztes Mal abzuwischen und eventuell zurückgebliebene Staub- und Flechtenteilchen zu entfernen. Durch die Arbeit mit Bürste, Zweig und Ale steht nun der Stein mit wieder leserlicher Schrift vor einem. Doch die Buchstaben sollen noch besser zu lesen und auch wenn die Flechten zurückkehren nicht gleich wieder unleserlich sein. Also muß man sie etwas hervorheben, wozu man Farbe benötigt. Der Laaer Steinmetz hatte uns geraten Betonfarbe zu verwenden. Gold ist von einem Laien, ohne spezielle Geräte, nicht aufzutragen. Es eignet sich besonders weiße und mittelgraue Farbe, weil diese nicht zu aufdringlich wirken, aber die Leserlichkeit um Vieles erhöht. Ein sehr dünner Haarpinsel ist für das Ausmalen der Buchstaben zu empfehlen. Man braucht keine besondere malerische Begabung und nicht die ruhigen Hände eines Chirurgen, doch man sollte mit viel Liebe ans Werk gehen, dann ist ein schönes Aussehen garantiert. Für die Restaurierung eines Grabsteins braucht man mehrere Stunden. Die längste Arbeitsdauer lag bei 9 Stunden — für einen Grabstein mit wenig Text mußt man allerdings auch sicherlich 3 Stunden veranschlagen. In den vergangen zwei Sommern haben wir insgesamt 22 Grabsteine restauriert. Wir begannen mit jenen Steinen, deren Zustand am Schlechtesten war und welche sich in der Mitte des Friedhofs befanden. Erst durch die Renovierung stellte sich dabei heraus, daß es sich um Kindergräber handelte. In diesem Abschnitt, welcher sich in der Mitte des Friedhofs auf beiden Seiten des Hauptweges erstreckt, sind Kinder im Alter von 7 Tagen (Friedrich Schmitz) bis 12 Jahren (Mirjam Bauer) bestattet. Danach restauriert wir Steine an verschiedensten Stellen – wieder die in schlechtestem Zustand zuerst.

Bevor wir uns über die Renovierung der Grabsteine Gedanken gemacht haben hat niemand von uns etwas Ähnliches versucht. Es braucht keine ausgefallenen Mittel oder Fähigkeiten um dies zu tun – der Wille und sich zu bemühen sind die wichtigsten Ingredienzen.

Als wir letztes Jahr, am 31. Juli, am Friedhof arbeiteten, geschah etwas ganz Besonderes. Es war gerade Mittag als ich am oberen Ende des Friedhofs beschäftigt war. Als ich Durst verspürte ging ich in den Hauptweg hinunter und plötzlich sah ich, daß jemand die Stufen heraufkam: zwei ältere Damen und eine junge Frau. Damit hätte ich niemals gerechnet, da der Friedhof kaum besucht wird. Natürlich mußte ich hin gehen und fragen wen sie hier besuchen wollten. Es stellt sich heraus, daß eine der Damen eine ehemalige Ernstbrunnerin war. Sie hieß Ida D. und wohnt in London. Sie war gekommen um ihren Vater, Adolf Pulgram, zu besuchen. Die andere Dame war ihre frühere Nachbarin und die dritte die Tochter der selben. Wir kamen ins Gespräch und sie erzählte mir, daß ihre Familie seit 150 Jahren in Ernstbrunn gelebt hatte und immer in guter Nachbarschaft. Doch als die Nazis an die Macht kamen, durften sie nicht aus dem Haus und sie mußten in den Zimmern ins Eck einen Kübel aufstellen um ihre Notdurft zu verrichten. Ihre Schwestern Gisela und Henriette, wie auch ihre Mutter, Clodilde Pulgram, kamen im Konzentrationslager um. Sie ist also die einzige Überlebende ihrer Familie.

Sie erzählte auch, wie schlimm die Nazis es mit den Juden in Mistelbach getrieben hatten. Sie wurden in Eiskellern eingesperrt bis sie ganz kalt gefroren waren und dann jagte man sie hinaus und schlug sie. Sie durften ihre Peiniger nicht ansehen, doch ein paar der Gequälten gelang es trotzdem die Gesichter der Nazis zu sehen. Wir tauschten Adressen und bald waren sie fort. Wieder gingen wir an die Arbeit.

Es war etwa 16 Uhr als wir ein paar Minuten Pause machten und etwas den Friedhof hinaufspazierten. Wir sprachen über Steine und welche wir als nächsten säubern sollten, als plötzlich eine Frau von vielleicht 70 Jahren neben mir stand. Man kann sich meine Ü berraschung wohl ausmalen. Ich sprach sie an und es stellte sich heraus daß sie mit ihrem Mann aus Australien hier her gekommen war, der die Gräber seiner Großeltern aufsuchen wollte – Josefa und Moritz Trebitsch aus Mistelbach. Sie waren das fünfte Mal in Österreich und hatten nie jemand am Friedhof angetroffen. Wie waren sie erstaunt uns hier zu sehen. Als sich Herr Trebitsch verabschiedete sagte er, uns hier zu treffen war für ihn „wie ein Fest mit bunten Lampions – so eine Freude“.

Immer wieder fragen uns Bekannte wieso wir den jüdischen Friedhof in Mistelbach pflegen. Öfter als man erwarten würde wundern sich diese dann wieso denn nicht die Nachfahren die Gräber pflegen „wie das die Christen doch auch täten“. Leute, die selbst schon einmal auf einem jüdischen Landfriedhof waren, wundern sich auch häufig ob wir das denn überhaupt dürften, denn an jüdischen Friedhöfen würde doch nie etwas verändert werden. Diese Menschen gehen dann von dem aus was sie kennen und setzen es als richtig. Keine dieser beiden Gruppen hat aber anscheinend eines bedacht: wer sollte die Gräber pflegen – die Verwandten der Begrabenen wurden ermordet oder in alle Winde zerstreut. Meist sind sogar schon die Enkel der Toten hoch betagt. Wer meint, jüdische Gräber würden für gewöhnlich einfach dem Lauf der Natur überlassen und müßten deshalb von Gras und Unkraut überwuchert werden, der sollte den Mistelbacher Friedhof einmal im Mai oder Juni besuchen. Auf dem Grab von Lina und Leopold Blau wird er dann weiße Narzissen finden. Auf vielen anderen Gräbern blühen dann in allen Rosa- und Rottönen Rosen. Diese wurden vor über 60 Jahren gepflanzt und schmücken die Ruhestätten seit damals jeden Frühsommer. Wären den Menschen damals ihre Verstorbenen nicht wichtig gewesen, wieso hätten sie ihnen Steine gesetzt und wieso hätten sie die Blumen und so manchen Zierbusch gepflanzt? Sie haben ihre toten Verwandten geehrt. Das ist, was wir durch unsere Arbeit tun wollen – die Verstorbenen ehren. Und auch die, die diese Menschen dort beweint haben und selbst keinen Grabstein haben, weil sie namenlos in einem Massengrab der Nazis liegen. Die Entkommenen und ihre Nachfahren sollen einen schönen Friedhof vorfinden. Der Schmerz, die Gräber der Vorfahren und Verwandten heute verwahrlost und eines Tage unleserlich vorzufinden, soll ihnen erspart bleiben.

[1] Interview mit Lilly K., 21. 7. 1994
[2] , „Totenbuch Theresienstadt“, Herausgeber: Mary Steinhauser und Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, S. 21, 2. Spalte
[3] Interview mit Lilly K., 21. 7. 1994
[4] Gespräch mit Ida D. vom 31. Juli 1997
[5] Interview mit Lilly K., 21. 7. 1994
[6] Brief von Alice G. vom 2. 10. 1995