Stockerau

Der jüdische Friedhof von Stockerau – Eine Etappe des Glaubenswegs 2008

(Abschrift meiner Rede am Stockerauer jüdischen Friedhof)


Als Laaerin, die aus beruflichen Gründen in Bayern lebt, war es mir eine besondere Freude, als Herr Pfarrer Pichelbauer, der im Gymnasium mein Lehrer war, mich einlud, die Gruppe von Pilgern am Stockerauer Friedhof zu empfangen und eine Einführung über jüdische Begräbnisriten sowie über den jüdischen Friedhof von Stockerau und die ehemaligen jüdischen Gemeinden des Weinviertels zu geben.

1. Allgemeines zum jüdischen Begräbnis

Zu Beginn seien einige wichtige Punkte zu den jüdischen Traditionen bei einem Todesfall angemerkt. (1) Für die Vorbereitung des Verstorbenen, sowie die Beerdigung, ist die Chewra Kadischa (Beerdigungsbruderschaft) zuständig. In jedem Ort, an dem es einen jüdischen Friedhof gibt, besteht auch eine Chewra Kadischa, früher auch in Stockerau.

Die Beerdigung soll so schnell wie möglich stattfinden. In der Zeit bis dahin sind alle engen Verwandten vom Gebet und von alltäglichen Verpflichtungen entbunden. Das Begräbnis beginnt damit, dass der Leichnam in mehreren Etappen durch verschiedene Menschen, die dem Verstorbenen dadurch die letzte Ehre erweisen wollen, zum Friedhof gebracht wird. Es folgen Gebete und ein Nachruf. Der Sohn spricht Kaddisch (Totengebet) für seine Eltern, in liberalen Gemeinden kann dies auch die Tochter oder ein Verwandter tun. Am offenen Grab reißen die engsten Familienmitglieder als Zeichen der Trauer ihre Kleidung ein. Diese wird während der auf das Begräbnis folgenden Woche (Ausnahme ist der Shabbat, der aber selbst Fastenzeiten unterbricht) als Zeichen der Trauer getragen und anschließend, um das Ende der intensiven Trauerzeit zu symbolisieren, weggeworfen.

Grabstein in Form der Gesetzestafeln (Stockerau)

Beim Verlassen des Friedhofs wäscht man sich die Hände, um die Unreinheit des Todes hinter sich zu lassen. Das Leben wird sich durch den Verlust ändern, deshalb geht man, gleichsam als ein anderer Mensch, nicht mehr aus jenem Tor aus dem Friedhof hinaus, durch das man hineingekommen ist.
Am Tag nach dem Begräbnis beginnt die Schiwah, eine intensive Trauerzeit von sieben Tagen, die die Familie zu Hause verbringt und in der sie von Freunden besucht wird, die mit den Hinterbliebenen beten und sie mit Essen versorgen. Nach der Schiwah besucht die Familie das Grab. Nun wird auch der Grabstein bestellt.

Mit dem Ende der ersten Trauerwoche beginnt Schloschim. In diesem Zeitabschnitt wird die Trauerperiode fortgesetzt, indem man keine Feiern besucht und für den Verstorbenen betet. Dreißig Tage nach der Beerdigung besucht man das Grab und der Stein wird gesetzt. Danach geht man für ein Jahr nicht zum Grab, die Wunden können heilen, man soll ins Leben zurückfinden, es neu ordnen. Später ist es üblich, zu großen Feiertagen die Gräber des Angehörigen zu besuchen (Jom Kippur, am siebenten Tag von Pessach, Schawuot und Simchat Torah). Am Jahrestag des Todes (nach dem hebräischen Kalender) wird des Verstorbenen ebenfalls gedacht.

Grabstein mit segnenden Priesterhänden / Kohanimhänden (Stockerau)

Zwei Regeln seien noch erwähnt, die Juden wie Christen befolgen sollen, wenn sie einen jüdischen Friedhof betreten. Männer sollen als Zeichen des Respekts den Kopf bedecken. Wer einen bestimmten Toten ehren möchte, lege einen Stein auf sein Grab, denn Steine sind unvergänglich. Jene, die den Toten kannten, können dadurch auch ausdrücken, dass sie an seinem Lebenswerk weiterbauen wollen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die jüdische Tradition es dem Hinterbliebenen ermöglicht, geregelte und gezielte Trauerarbeit zu leisten und danach ins Leben zurückzukehren. Während dieser schwierigsten Zeit im Leben des Menschen ist er in eine religiöse und soziale Gemeinschaft eingebettet, die ihn unterstützt und auch für die rituell optimale Versorgung des Leichnams sorgt (Chewra Kadischa).

2. Der jüdische Friedhof von Stockerau

Der jüdische Friedhof von Stockerau befindet sich am Ortsrand, durch einen Weg (Schießstattgasse) und die Friedhofsmauern von dem in direkter Nachbarschaft liegenden christlichen Friedhof abgetrennt. Da es für die Auferstehung nach jüdischer Glaubensvorstellung essentiell ist, dass Gräber bis zum jüngsten Tag Bestand haben, wurden häufig separate jüdische Friedhöfe angelegt. (Anmerkung: Ohne die Gebeine ist eine Auferstehung laut jüdischer Tradition nicht möglich. Nach orthodoxer Ansicht stellt die Auferstehung der verbrannten Opfer des Holocaust ein theologisches Problem dar. In Yad Vashem in Israel wurde deshalb ein Ort geschaffen, von dem man hofft, dass von dort die Ermordeten am jüngsten Tag auferstehen können.)


Die Friedhofsmauern beherbergen eine Mischung aus sehr alten, teilweise durch Wind und Wetter abgetragenen Sandsteindenkmälern und neuere Grabsteine verschiedenen Materials. „Auf rund 12.600 m² finden sich heute 136 Gräber.“ (2) Im Gegensatz zu anderen Friedhöfen in Wien und Niederösterreich lassen sich in Stockerau nur einzelne Zeugnisse von Grabsteinornamentalik finden. Erwähnenswert sind eine abgebrochene Säule, die häufig bei jungen Verstorbenen gewählt wird, und ein Grabstein in der Form der Gesetzestafeln. Am Grabstein von Gustav Graf sind die Kohen-Hände eingraviert, die darauf hinweisen, dass der Verstorbene dem Stamm der Kohanim, der Priester, angehört hat.


Nicht unerwähnt soll auch ein Massengrab am Stockerauer Friedhof bleiben, das in die dunkelste Epoche der österreichischen Geschichte führt. Über die Begrabenen ist in den Unterlagen der IKG Wien folgendes zu lesen:

In Sitzenberg-Reidling befand sich ein Gemeinschaftslager jüdischer Zwangsarbeiter. Auf dem Weg in dieses Lager starben fünf Juden, deren Namen unbekannt sind. Dieselben wurden in einem gemeinsamen Grab auf dem jüdischen Friedhof in Stockerau begraben. Am 17. August 1944 verstarb im gleichen Lager Samuel Feldheim, der […] in dem gleichen Grab wie die fünf unbekannten Märtyrer auf dem jüdischen Friedhof in Stockerau beigesetzt wurde. […] Auf der Grabstelle wurde im Dezember 1963 ein Grabmal mit folgender Inschrift errichtet: ‚In diesem Grab ruhen sechs jüdische Zwangsarbeiter, welche als Opfer des Nationalsozialismus den Märtyrertod gestorben sind. Fünf sind namenlos. Der zuletzt Bestattete war Samuel Feldheim aus Szeged in Ungarn (1884-1944)’.

(3)

Samuel Feldheim

war als Vorstandsmitglied (4) der israelitischen Kultusgemeinde Szeged ein wichtiger Vertreter dieser Gemeinde. Sein Schicksal, wie das seiner fünf Leidensgenossen, erinnert an die tausende Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, die in den letzten Kriegsmonaten auf Todesmärschen durch Österreich starben und namenlos in Massengräbern oder ohne Erinnerungsstein fern ihrer Heimat begraben liegen.

3.Die jüdische Gemeinde von Stockerau als Beispiel
für eine der Weinviertler jüdischen Gemeinden

Obwohl es in Weinviertler Städten, wie zum Beispiel Laa an der Thaya, bereits im Mittelalter jüdische Gemeinden gegeben hat, entstanden viele Gemeinden Mitte des 19. Jahrhunderts, als eine „breite Zuwanderung nach Niederösterreich, aber auch nach Wien einsetzte. In den frühen Jahren dieser Bewegung war der Hauptgrund dafür [das …] so genannte Familiantengesetz […]. Dieses regelte die Gesamtzahl der jüdischen Haushalte in den Herkunftsländern Böhmen und Mähren und bestimmte, dass pro Familie jeweils nur ein Sohn sich verehelichen durfte […].“ (5)

Um den Familien eine religiöse Infrastruktur zu bieten, erbaute man Synagogen, gründete Kultusgemeinden und Friedhöfe. „In Stockerau konstituierte sich 1905 eine eigene Kultusgemeinde, 1907 eine Chewra Kaddischa. Ein Bethausverein hatte [schon] seit 1856 bestanden, das Friedhofsareal war bereits 1874 erworben worden.“ (6) Wenige Gehminuten vom Friedhof, stadteinwärts, erbaute der Architekt Leopold Holdaus 1903 die Synagoge in der Schießstattgasse 44. (7) Durch diese Einrichtungen war die Grundlage für den Bestand der jüdischen Gemeinde geschaffen, die Kultusgemeinde sollte allerdings nur wenig länger als drei Jahrzehnte bestehen.

Erinnerungsstein vor der ehemaligen Stockerauer Synagoge

Die Synagoge in der Schießstattgasse wurde 1938 zu einer evangelischen Kirche (8) umfunktioniert, die heute noch besteht und deren Kirchenschiff noch die ursprüngliche Einteilung der Synagoge (erhöhter Frauenteil zu beiden Seiten) sowie originale Holzvertäfelung und Lampen aufweist.

Innenansicht: ehemalige Synagoge Stockerau

„15 jüdische [Kultusgemeinden …] gab es im Jahr 1938 in Niederösterreich: Amstetten, Baden, Gänserndorf, Groß-Enzersdorf, Hollabrunn, Horn, Krems, Mistelbach, Mödling, Neunkirchen, St. Pölten, Stockerau, Tulln, Waidhofen/ Thaya und Wiener Neustadt. […] So viele jüdische Gemeinden gab es damals in keinem anderen Bundesland […]“. (9) Diese Zahl beweist die Wichtigkeit der Weinviertler jüdischen Gemeinden.

Nach 15 Jahren Recherchen über die jüdische Gemeinde in Laa an der Thaya und unzähligen Zeitzeugenberichten scheint es in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, dass die meisten Weinviertler Juden sich ebenso wie ihrer Religion dem Ort zugehörig fühlten. Man engagierte sich in den örtlichen Vereinen, pflegte Freundschaften mit Christen und „gehörte einfach dazu“. 1938 fand das Miteinander jedoch ein jähes Ende. „Bis zu 10.000 Jüdinnen und Juden lebten 1938 in Niederösterreich. Nach dem Holocaust […] ist keine der 15 israelitischen Kultusgemeinden in Niederösterreich wiedererstanden.“ (10) Es obliegt nun den heutigen Weinviertlern, den Gräbern und baulichen Überresten mit jenem Respekt gegenüberzutreten, der früheren Generationen im Umgang mit ihren Mitmenschen fehlte. Vor allem dürfen die Menschen niemals vergessen werden.

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(1) Hangaly, Petra u. Hazy: Vom Tod bis Jahrzeit in Stichwörtern. http://www.juedisches-lehrhaus-goettingen.de/trauer.html
(2) Walzer, Tina: Jüdisches Niederösterreich erfahren – eine Reise durch das Weinviertel der vergangenen 150 Jahre. http://david.juden.at/kulturzeitschrift/61-65/62-Walzer.htm
(3) IKG Wien, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte, Mappe Bericht über Friedhöfe 1955-1964, Dr. Ernst Feldsberg an Regierungsrat Krell 23. 7. 1964 Beilage 7
(4) IKG Wien, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte, Mappe Sammelgrab Ortsfriedhof Stockerau Sammelgrab 6 Leichen, Abraham Feldheim an IKG Wien 28. 12. 1961
(5) vgl. Walzer
(6) Moses, Leopold: Spaziergänge. Studien und Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. v. Patricia Steines. Wien 1994, S. 147.
(7) Unterköfler, Herbert u. Karl Schwarz: Zur Geschichte der evangelischen Lutherkirche in Stockerau. http://www.christenundjuden.org/de/?item=85
(8) ebd.
(9) http://science.orf.at/science/news/130500
(10) ebd.