Zeugnis Joe S.

Zwangsarbeit am Blaustaudenhof – Informationen von Joe S.

Im Folgenden mache ich Ihnen in Übersetzung zwei E-Mails von Joe S., dem Sohn eines Zwangsarbeiters am Blaustaudenhof bei Laa, zugänglich. Es handelt sich dabei um Dokumente von außerordentlicher Wichtigkeit und Authentizität.

Übersetzung von Ausschnitten aus einer E-Mail vom 24. März 2010:

Hier ist, was ich durch meine bisherigen Recherchen und Gesprächen mit Familienmitgliedern herausgefunden habe:

Ich sollte zuerst sagen, dass ich den Blaustaudenhof erst kürzlich [als Ort der Zwangsarbeit] identifizieren konnte. Die letzte Überlebende ist meine Tante Eva. Sie erinnerte sich an den Namen als „Landerthal near Blaustaden, Austria“. Sie redet nicht gerne über diese Zeit, so musste ich das zusammentragen, was sie anderen Verwandten erzählt hat.

Mein Vater war Janos Scheiner. Er änderte seinen Namen in John, nachdem er nach Australien ausgewandert war. Er war der Sohn von Tibor Scheiner und kam aus einem kleinen Dorf, ungefähr 130 Kilometer östlich von Budapest, mit dem Namen Kunmadaras. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, was die Beteiligung Ungarns am Krieg betrifft, aber rund um den 15. Mai 1944 wurden alle Juden der Gegend zusammengetrieben und in Gettos in der Gegend verfrachtet. Die meisten erwachsenen Männer – darunter mein Vater – waren zuvor schon zum Arbeitsdienst eingezogen worden. Ich denke, dass mein Großvater dem Arbeitsdienst entgehen konnte, weil er der Arzt der Stadt war. Nach ungefähr einem Monat wurden die Juden zu Sammelpunkten gebracht. Für die Juden von Kunmadaras war das die nächst Stadt, Szolnok.

Nach einigen Wochen in Szolnok wurde die Anführer des Gettos aufgefordert, die Juden in zwei Gruppen zu teilen: „A“ und „B“. In der Gruppe A befanden sich Gemeindeleiter, Apotheker, Doktoren und so weiter mit ihren Familien. In der Gruppe B befanden sich alle anderen. Ich denke nicht, dass die Leute wussten, dass die Gruppe B ausgelöscht werden sollte. Aber es gab eindeutig einige Leute, die darum kämpften, in Gruppe A zu kommen und deshalb überlebt haben.

Der Grund für dieses Verfahren war, dass Eichmann Gespräche darüber führte, die Juden bei Bezahlung eines Lösegeldes oder im Austausch gegen Kriegsmaterialien freizulassen. Er brauchte auch Zwangsarbeiter in Österreich und den benachbarten Gebieten. Der Plan was es, einige Familien „auf Eis“ zu legen, während die Verhandlungen andauerten und zur gleichen Zeit das Bedürfnis nach Arbeitskräften zu stillen.

Die Gruppe A wurde am 26. Juni nach Strasshof an der Nordbahn deportiert. Gruppe B wurde am 29. nach Auschwitz deportiert. Meinem Großvater war es gelungen, eine Gruppe zusammenzustellen, die er mitnehmen konnte – diese bestand aus ihm selbst, seiner Frau, seiner Mutter und Schwiegermutter, seiner Schwägern und deren Tochter (die ein Kind war), der Frau seines Cousins und ihrem Sohn (der ebenfalls ein Kind war).

Von Strasshof aus wurden sie nach Laa an der Thaya, nahe der tschechischen Grenze gebracht. Es gab eine gewisse Auswahl an Arbeit und mein Großvater entschied sich für die Arbeit auf einem Bauernhof. Es stellte sich als eine weise Entscheidung heraus, da die ganze Gruppe überlebte. Der Name des Bauernhofes oder die Gegend, in dem er sich befand, war „Blaustaudenhof“ [Name des Gutshofes].

Gegen Ende des Krieges wurden sie in den Norden, nach Theresienstadt, gebracht. Es gab zwei alte Frauen in der Gruppe und der Bauer lieh ihnen deshalb ein Pferd und einen Wagen. – Ich hielt dies für nur schwer zu glauben, aber mir wurde versichert, dass es der Wahrheit entspricht. – Die anderen Überlebenden, die sie trafen, konnten kaum glauben, dass sie alte Frauen sahen. Sie dachten, die wären alle getötet worden. Ein Verwandter sagte mir, dass die zwei Kinder aus der Gruppe unter den 93 Kindern waren, die in Theresienstadt befreit wurden.

Die Gruppe bestand aus:
Dr Tibor Scheiner, geboren am 12 April 1888,
seiner Frau, Iren Scheiner (geborene Ernst), geboren 1897,
seiner Mutter, Irma Scheiner (geborene Kun oder Kohn), geboren am 7. Dezember 1860,
seiner Schwiegermutter, Hermina Ernst (geborene Farkas), geboren 1875,
seiner Schwägerin, Piri Ernst (geborene Wohl), geboren 1910,
ihrer Tochter, seiner Nichte, Eva Ernst, geboren 1935,
der Frau seines Cousins, Klara Kun (geborene Fischer), geborene 1911,
und ihrem Sohn, Ferenc Kun, geboren am 13 Juli 1937.

Übersetzung von Ausschnitten aus einem E-Mail vom 25. März 2010:

Ich weiß nicht, ob sie am Blaustaudenhof lebten oder nur dort arbeiteten. Ich zögere, meine Tante Eva zu sehr zu fragen, denn diese Erinnerungen sind sehr schmerzhaft für sie. Ich versuche, mehr von den Verwandten zu erfahren, denen sie früher ihre Geschichte erzählt hat.

Ich kann nicht sagen, ob man Ungarn mit Polen verwechselt hat, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass die Ungarn in Österreich nach dem Juni 1944 ankamen. Diese Deportation war anders als alle früheren Deportationen ungarischer Juden, weil sie nicht wie die anderen in Todeslagern ermordet wurden, sondern etwa 20000 von ihnen bewusst zu Überlebenden gemacht wurden, als man sie im Juni 1994 deportierte. Wenn also andere Zwangsarbeiter 1943 in Laa ankamen, so waren sie wohl keine Ungarn, obwohl sie natürlich auch von Teilen Rumäniens hätten sein können, die damals von Ungarn besetzt waren.

Es tut mir leid, aber ich befürchte, ich weiß nicht viel über ihren Alltag. Ich muss meine anderen Verwandten um Informationen bitten.

Von dem, was mir Eva erzählt hat, wurde die Entscheidung, aufs Land zu gehen, in Strasshof gefällt und ein anderer Verwandter (Miklos Ernst) entschied, sich zu einem Arbeitsbatallion in der Stadt (vielleicht Wien) zu melden. Er starb vor dem Ende des Krieges an Typhus. Also muss es eine gewisse Auswahl von Arbeitsorten gegeben haben. Mir wurde erzählt, dass mein Vater sein sehr charmanter, sehr kluger und sehr überzeugender Mann war.

Hier ist eine lustige Geschichte über ihn, die ich neulich aufgestöbert habe:
Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg in der österreichisch-ungarischen Armee. Er wurde von der russischen Armee gefangen genommen und wollte mit seiner Familie in Kontakt treten. Aber natürlich war er für die Russen ein Ungar, der an andere Ungarn schreiben wollte. Ich habe die Postkarte noch – sie ist auf Deutsch geschrieben. Sie ist nicht an einen nahen Verwandten, sondern den Schwagers seines Bruders gerichtet. Nachdem jemand den Text für mich übersetzt hatte, verstand ich alles. Alles, das von einem Kriegsgefangenen geschrieben wird, unterliegt der Zensur durch das Militär. Eine Nachricht an seine Familie zu schreiben bedeutete als gleichzeitig, eine Botschaft an seine Wächter zu senden.
Der Verwandte meines Großvaters war Adolf Fürst von Bator keszi und das ist, wie ihn mein Onkel in seinem Schreiben angeredet hat:

„Herr Hochwohlgeboren
Fürst Grundbesitzer
Bátor keszi,

Lieber Onkel, […]“.

So teilte er nicht nur seiner Familie mit, wo er war, sondern implizierte gleichzeitig (natürlich fälschlicher Weise), das er der Neffe eines Prinzen sei, in einem Brief, der von seinen Bewachern gelesen wurde. Ich hoffe, danach wurde er besser behandelt.