Briefe

Briefe

Adelaide, 29.8.92

Liebes Fräulein Müllner,

Ich war sehr überrascht als ich Ihren interessanten Brief erhielt. Ich beginne diesen heute zu beantworten, aber ich glaube ich werde ihn über einige Zeit zu Beendigung bringen, da mir so viele Gedanken durch den Kopf gehen. Mein Deutsch ist nicht mehr korrekt, ich lebe jetzt 53 Jahre in einem englisch sprachigen Land und verwende fast überhaupt nicht die deutsche Sprache.
Nun zu ihrer Bitte ihnen ein schriftliches Interview zu geben. Ich tue es sehr gerne, erstens finde ich interessant und liebenswert Ihr Thema für Ihre Matura und zweites habe ich jetzt durch sie erfahren, dass Frau Zucker am Leben ist. Wer hat Ihnen deren Adresse gegeben? Wir waren in Korrespondenz ab und zu. Als Irak die Scud Missiles über Israel sandte sah ich auch am Fernseher, dass Ramat Gan (wo die wohnen) sehr zerstört wurde. Ich schreib sofort an die, aber mein Brief kam zurück. Freunde von mir von hier besuchten Israel und ich bat sie sich zu erkundigen. Die kamen zurück und sagten mir es gibt keine Zucker in Ramat Gan. So verlange ich nun auch eine Bitte von Ihnen, mir die Adresse der Zuckers zu schreiben. So viel für die Einleitung jetzt weiß ich nicht so eigentlich zu beginnen. Ich habe ihre Familie nicht gekannt. Ich glaube es wird nicht mehr viele Leute geben, die noch am Leben sind (ich bin 76 Jahre) oder die bereit sein werden ihre Schandtaten zuzugeben.
Ich maturierte am Realgymnasium in 1935 (mit Vorzug). Zu dieser Zeit gab es schon antisemitische Ausbrüche in der Schule als auch im Allgemeinen. Mein Vater, der in Laa geboren war (unser Name war Drill) wollte es nicht begreifen, dass die Laaer Einwohner gegen uns sein könnten. Meine Eltern hatten ein Getreidegeschäft und wir wohnten an der selben Adresse in Miete. Es war Stadtbahnstraße No 1. Seither wurde der Name der Straße öfters geändert.
Als ich in 1980 auf Besuch (3 Stunden) dort war (in Laa) sah ich, dass es nur mehr ein Wohnhaus ist. Es war gerade noch am Hauptplatz vis-a-vis einem Gasthof und Hotel (damals Stimson Eigentümer). Unser Haus gehörte einer Familie Frank, die ein großes Warenhaus besaßen. Deren Tochter Trude (die noch leben könnte) heiratete einen der 2 Brüder (Name ist mir entfallen), die hatten eine Drogerie neben uns. Der 2. Bruder hatte eine Prantl geheiratet. Ich schreibe Ihnen das alles, ich glaube, einige der Menschen müssen noch leben. Ich komme später auf die jüdische Gemeinde zurück. Meine beste [4 Mal unterstrichen] Freundin während meiner ganzen Schulzeit war eine gewisse Marie Hally, die nach dem Krieg einen gewissen Farny geheiratet hat und hatten 2 Kinder. Ihr Bruder war Ada Hally, der wurde Arzt und meine Freundin wurde Lehrerin. Die verloren ihren Vater der Postdirektor war ziemlich jung, und meine Eltern, die nie reich waren, halfen der Witwe mit Lebensmitteln von unserem Geschäft (Mehl, Reis, Bohnen etc.). Ada kam oft zu uns, er spielte Violine und ich Klavier. Auf einmal blieb er weg, circa 1935 und ich fragte Marie – warum?? – bekam keine Antwort. Blöd wie ich war, erkannte ich nicht, dass er ein Nazi Anhänger wurde. Ich bin nach meiner Matura nach Wien, wo ich die Hotelschule besuchte. Meine Schwester Herta (4 Jahre älter als ich) blieb in Laa. Nach Beendigung meiner Hotelschule und 3 Monate Praktikum in Belgien um mein Französisch zu perfektionieren, konnte ich keine Stellung bekommen weil ich Jüdin war. Im März 1938 kam der Anschluss, Österreich bekam Deutschland, die Hitler Lehre „Tod, Vernichtung den Juden“ wurde sofort ausgeführt. Meine Mutter und Schwester mussten die Straßen reiben um die früheren politischen Slogans zu entfernen. Mein Vater glaubte noch immer, dass das nur vorübergehen wird. Aber sofort wurde ein Gärtner als Manager in unser Geschäft gegeben. Er musste Gehalt bekommen, aber am Geschäft war ein großes Plakat „Juden Geschäft“ und natürlich niemand hat sich getraut hinein zu gehen. Meine geliebte Freundin Marie, hat mich nicht mehr gekannt. Ich verstand, dass es für sie gefährlich war, aber ich wartete vergeblich auf einen Brief von ihr oder irgend ein Lebenszeichen, einen Ausdruck von Kummer oder Sorge für mich. Als ich in 1980 in Österreich auf Besuch war und Marie erfuhr das, sandte sie ihre Tochter zu unserem Hotel in Wien und bat mich ihre Mutter zu treffen. Ich habe zugestimmt, aber als ich sie wirklich im Restaurant Schnitzer mit ihren 2 Kindern sah, konnte ich über unsere tragische Vergangenheit nicht hinwegkommen und fand es nicht möglich mir ihr zu sprechen. Es war ein ganz kurzes Wiedersehen, das ich bis heute nicht vergessen kann. Ihr Mann war auch ein schrecklicher „Manager“ bei einer jüdischen Familie, die einen Holzhandel hatten. Es war unmöglich für meine Eltern in Laa zu bleiben. Unser Bankkonto in der Sparkassa und Vorschusskassa wurden gesperrt, unser Geschäft hatte keine Kunden, unsere Wohnung wurde durchsucht – für Geld, Wertgegenstände und anti-politische Drucksachen.
Unser Klavier wurde aus der Wohnung herausgetragen und ich werde nicht vergessen wie meine Schwester und ich weinten und unsere tapfere Mutter sagte – „weint nicht, wir sind noch am Leben und zusammen!“ Das war leider nicht für lange. Meine Eltern und Schwester kamen auch nach Wien, wo wir in Untermiete lebten mit einer anderen jüdischen Familie. Nicht alle Laaer waren schlecht. Der Bankmanager von der Vorschusskassa, ein Herr Knie, ermöglichte meinem Vater eine Summe Geld abzuheben, die uns ermöglichte 2 Überseetickets zu kaufen. Meine Eltern wurden unterstützt von meiner Mutters Verwandtschaft in Cechoslovakia. Nach einigen Monaten wurden die alle in den Concentrationslagern vernichtet. Es gab einige gute und mutige Menschen. Zum Beispiel einer unserer Arbeiter kam bei Nacht von Laa nach Wien mit Lebensmitteln für uns. Unsere Bedarfskarten hatten alle ein „J.“ sowie alle unsere Belege. Mit diesen Karten war es schwer Lebensmittel zu bekommen, aber eine Geschäftsinhaberin verkaufte meiner Mutter nach Geschäftssperre. Wir haben alle in die Weite Welt um Einreisebewilligung geschrieben. Nach einem Jahr wurden meine Eltern und wir 2 Töchter vom amerikanischen Konsul abgewiesen. Mein Onkel (Bruder meiner Mutter) war nicht reich genug um für 4 Leute zu garantieren. In der Zwischenzeit bekamen meine Schwester und ich Einreisebewilligungen nach Australien. Meine Eltern schweren Herzens schickten uns in die unbekannte Sicherheit und mein Onkel versuchte nochmals für meine Eltern einzureichen. In 1940 verließen sie Wien mit dem letzten amerikanischen Schiff bevor Amerika in den Krieg eintrat. Meine Schwester und ich verließen Österreich im März 1939. Ich will nicht ein Einzelheiten eingehen wie schwer es war die nötigen Behörden Stempel zu bekommen. Wie gefährlich es war ohne Hakenkreuz in der Straße zu gehen. Wenn sie daran interessiert sind kann ich Ihnen weitere Details über uns und unsere Familienmitglieder und der Schicksal Bericht erstatten. Nach dem Krieg konnten meine Eltern zu uns kommen. Ich war schon verheiratet in Adelaide und meine Schwester war verheiratet in Melbourne. Das sind große Distanzen. Mein Vater starb nach 1 Jahr, er ertrug unser Schicksal nur schwer, er war entwurzelt und fand es schwer die Englische Sprache zu erlernen. Meine Mutter lebte in Adelaide und wurde 89 Jahre alt.
Sie schreiben, dass Ihre Eltern katholische Lehrer sind. Das ist ein Beruf mit großer Verantwortung. Erst seit 2 Jahren hat der Vatican decreed, dass aus dem Lehrbüchern jetzt und für immer nicht mehr erlaubt ist zu lehren, dass Jesus Christus von den Juden ermordet wurde. Es war diese Verleumdung, der Urgrund der den Hass verewigte. Wenn immer eine economic Krisis in den Ländern auftritt – es sind immer die Juden Schuld daran.
Nun will ich Ihnen über die jüdische Gemeinde in Laa berichten, soviel ich mich erinnern kann. Wir hatte ein Bethaus (synagoge) am 1sten Stock in der Nähe von der Mühle vis a vis von der Kirche. Unten war ein Gasthaus. Oben war unser sanctuary, es enthielt 6-8 Thorascrolls. Bänke für das Anteilwohnen. Männer und Frauen saßen separat. Eine Thora ist der hebräische Inhalt der 5 Bücher Moses. Es ist handprinted in parchment. Both ends of the large (long) scroll is attached zu 2 Stecken / Stäben, die von beiden Enden nach innengehend gedreht wurden, dann mit einem Band zusammengehalten. Mit silber und gold gesticktem „Mantel“ überzogen. Am Ende der Stäbe sind silbercylindrike Formen mit Glöckchen daraufgesteckt und eine Silberplatte die mit einer Kette um die Stäbe gewickelt vorne als Dekoration hängt. (Ich weiß nicht ob Sie sich das vorstellen können, aber Sie müßten Vorlagen bekommen.) Was ist mit all dem geschehen?? Wir hatten einen Religionslehrer, der uns das Lesen und Schreiben der hebräischen Sprache beibrachte – aber wir haben sehr wenig von dem Inhalt der Gebetbücher verstanden. So ähnlich wie das Lateinische in der Katholischen Kirche. Er war auch der Schlächter des Viehs, das von den frommen Juden benötigt wurde. Es ist ein spezielles Ritual und auch mußte er das Vieh untersuchen, ob alle Eingeweide gesund waren und keine Tuberculose. Nicht alle Juden haben auf diese rituellen Gesetze Wert gelegt. Sabbath wie alle jüdischen Feiertage wurden von uns eingehalten, zu den großen Feiertagen wurde unser Geschäft gesperrt und ich ging nicht zur Schule. Es gibt in Mistelbach einen jüdischen Friedhof (wenn er nicht zerstört wurde), dort wurden die Laaer Juden begraben. Ich werde jetzt versuchen mich an die meisten Familien zu erinnern.
Ich beginne mit unserer Drill Familie.
Mein Vater Moritz Drill hatte 2 Brüder und 1 Schwester in Laa. Moritz Drill hatte zwei Töchter, emigrierte nach Amerika und Australien.
Sigmund Drill: 2 Söhne und Familie, 5 Jahre im Gefängnis in Mauritius, Onkel und Schwiegertochter starben – Familie kehrte zurück nach Österreich nach dem Krieg
Ignatz Drill – 1 Sohn, wurde im Concentrationslager vernichtet
2 Familien Maneles – umgekommen
1 Familie Bloch, Eltern umgekommen, Tochter nach Argentinien [Venezuela]
Fräulein Broda + Mutter – Zitherlehrerin – umgekommen
3 Familien Blau – alle umgekommen
Dr. Loschitz – Rechtsanwalt – umgekommen
Dr. Toch & Familie – umgekommen [Söhne und Mutter überlebten]
Familie Adler – 2 Söhne – ausgewandert nach Australien
Dr. Eisinger – umgekommen [ausgewandert nach USA]
Familie Jokel – umgekommen [bis auf Sohn]
Abeles umgekommen
Österreicher, Eltern umgekommen, Tochter nach Palästina
2 Familien Hauser, 1 Familie umgekommen, 2. Familie Tochter und Mutter nach England
unser Religionslehrer, Herr Fischof, einer seiner Söhne war ein Tierarzt, Herr Fischof starb, seine Frau wurde von einem der Söhne nach Amerika angefordert
Juden kamen von Gaubitsch, Wolkersdorf zu den Feiertagen am Gottesdienst Teil zu nehmen.
Als ich in Laa war, da sah das Tempelgebäude an wie ein verwunschenes Schloss, als ob sich niemand hineinzugehen traute. Die Häuser (Eigentümer) von Juden wurden von den Nazis übernommen. Nach dem Krieg hat das Government etwas compensation (nach Aufforderung durch Advocats) gegeben. Unsere Ersparnisse in den Sparkassen wurde erschöpft durch Gehälter für den Manager, Judensteuer, Auswanderungssteuer etc.
Ich erinnere mich an gute Menschen – Thalhammer, Jascha, Zwieb, Oberenzer. Vielleicht leben die noch da sie mein Alter sind. Nun glaube ich Ihnen ausführlich viel Stoff zum Verdauen gegeben. Ich wünsche ihnen viel Erfolg mit Ihrer Matura. Ich freue mich Sie „kennengelernt“ zu haben, bitte schreiben Sie wieder wenn Sie noch etwas wissen wollen Vielleicht eine copy Ihrer Fachberichtung?
Herzliche Grüße
von Ihrer Hilda White

27. 10. 92

Liebe Magdalena,
Danke für Ihr Photo, ich freute mich Sie „kennen zu lernen“. Ich werde versuchen Ihre Frage, wie Sie sie stellten, zu beantworten. Danke für Frau Zuckers Adresse, sie ist die alte, und wahrscheinlich durch die damaligen Scud missiles Kriegs situation, kam mein Brief zurück, ich fürchtete dass die umgekommen sind. Kühtreiber, erinnere ich mich noch an den Namen, die hatten die Brauerei und mein Vater verkaufte denen Gerste. Auch noch eine Frage – die Personen, die ich in meinem Schreiben an Sie nannte – leben die noch?
Ich kenne keinen Herrn Kohn von Laa. Meine Schwester lebt schon seit 35 Jahren an einer anderen Adresse.
Antisemitismus in Laa – Ja, da war eine politische Partei – Großdeutsche Partei und zu meiner Zeit ein Professor Zippe hat vom Balkon des Rathauses gegen die Juden gepredigt. Er war Professor am Realgymnasium und als Lehrer besonders nett. Sein Sohn war in meiner Klasse und ich hörte er ist im Krieg gefallen. Im großen und ganzen kamen wir sehr gut aus mit den Laaer Menschen, bis der Hass gegen uns inszeniert wurde und fand fruchtbaren Grund.
Da Samstag Markt war – wo die Leute von der Umgebung kamen – war unser Geschäft offen. Die Frömmigkeit der Juden war individuell – von gläubig bis fast ungläubig.
Religionsunterricht war Sonntagvormittag in der Volksschule. Wir waren Schüler als wir Religionsunterricht erhielten. Wir sprachen nicht jiddisch. Christen war es erlaubt die Synagoge zu besuchen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals solche Besuche hatten. Ich selbst besuchte mehrmals die Kirche – Hochzeiten, Begräbnisse von Freunden.
Ich habe Ihnen in meinem letzten Brief beschrieben, dass unsere Synagoge nur am 1. Stock war. Unser „Altar“ das wir Bimah nennen ist eine Art Schrank, der die heiligen Scrolls – Torah hausen. Die Einrichtung war ganz bescheiden = Bänke = so ähnlich wie Schulpulte, wo man die Gebetbücher hineingeben kann. Über dem Altar waren die 10 Gebote.
Ich möchte Ihnen anraten von der Bibliothek Bücher auszuborgen die mit den Festtagen und Gebräuchen der Juden handeln, da ich Ihnen brieflich nicht alles mitteilen kann, auch bin ich nicht so 100% informiert. Die Miete wurde von den Mitgliedern aus teils von der Kultusgemeinde Wien bezahlt, so auch der Gehalt unseres Vorbeters. Das 7 blättrige Blatt [unter den Fenstern an der Fassade der Synagoge] hat nichts mit Judentum zu tun.
Es gab nicht viele Familien in den verschiedenen Dörfern – 1-2 Familien in jedem Dorf. Laaer Juden heirateten ihre Partner von woher sie die kennen lernten. Manchesmal Juden haben Christen geheiratet und das gibt es bis den jetztigen Zeiten. Liebe kennt keine Grenzen.
Ich glaube kaum, dass Juden im alten Friedhof begraben sind. Ich selbst war mehrmals am Mistelbacher Friedhof. Ich kann Ihnen keinen Bescheid über Gruft geben. „Friede seiner Asche“ ist nur ein Spruch. Verbrennung ist bei den orthodoxen Juden nicht erlaubt, wird aber bei liberalen Juden, wenn so gewünscht, erlaubt. Ich bin froh, dass der Friedhof in Mistelbach existiert und gepflegt wird. Die Eltern meines Vaters waren in Nikolsburg begraben. Meine Mutter kam from Böhmen, beide meine Eltern starben hier in Adelaide.
Ich hoffe, dass ich Ihre Fragen beantwortet habe.
Über die Juden in Laa ist auch nicht viel zu berichten. Die meisten Familien haben ihre Geschäfte gehabt, es waren einige Rechtsanwälte, alle lebten ein bescheidenes Leben und gaben niemals Anlass Hass zu erwecken. Dieser Hass scheint jetzt schon wieder in Europa zu explodieren, nicht nur gegen die Juden sondern auch gegen Einwanderer und Minoritäten.
Ich wünsche Ihnen Erfolg mit Ihrem gewählten Thema, ich hoffe Sie werden mein Schreiben enträtseln können und meine schlechte Grammatik verzeihen. Ich dachte immer, dass man die Muttersprache nicht vergessen kann, aber scheinbar ist es doch der Fall bei mir. Englisch ist jetzt meine Muttersprache, es fällt mir leichter zu schreiben und zu sprechen.
Mit besten Grüßen an Sie und Ihre Familie
Ihre Hilda White

Einige Briefe später:

23.4.93

Liebe Magdalena, auch liebe Elisabeth und lieber Herr und Frau Müllner,

Vielen Dank für Magdalenas und Elisabeths Briefe und die herzlichen Pessachwünsche von Ihnen allen. Vor allem muss ich Ihnen danken für die Photographien und Ansichtskarten von Laa. Es hat mich ganz aufgewühlt, bin stundenlang gesessen um mich in Laa „zurecht zu finden“. Den inneren Balkon der Synagoge kann ich mir nicht erklären oder vorstellen. Ich freue mich, dass Ihnen die T-Shirts gefallen, hoffentlich passen sie auch. Wie immer bringt meine Korrespondenz mit Ihnen neue Überraschungen. Ich kenne den Adler der hier wohnt, der hat mit den Juden nichts zu tun. Ernst Neumann (jetzt Arie Naman) hatte ich Hilfsunterricht in Latein gegeben, aber er wollte nicht gerne lernen. Bitte geben sie mir seine Adresse. Edith Bloch, jetzt Fischbach, war mit uns sehr befreundet, wir verloren Kontakt mit ihr, wußte nicht wo sie lebt, muß ungefähr 80 Jahre sein, bitte geben sie mir auch deren Adresse. Das ist das Schicksal der Auswanderung, man wußte nicht ob Menschen lebten oder starben und wohin sie sich gerettet haben. Die Zwieb Margret ging mit mir in die Volks- und Bürgerschule und wir haben uns immer gut verstanden. Ich habe eine Schulphotografie von der 3. Klasse Bürgerschule. (ich bin von Bürgerschule ins Realgymnasium, musste 2 Jahre Latein nachlernen und Aufnahmsprüfung). Meine Gliedcousine Kitty hat mir geschrieben, daß sie euch alle getroffen hat in der Synagoge. Ihr Kurs und Exkursion muss auch sehr interessant gewesen sein. Ich schreibe heute von Perth wo ich auf 10 Tage bei meiner Tochter und Familie verbringen werde. Sie werden schon für Ihren Israel trip einpacken und ich kann verstehen, dass Ihre l. Eltern nervös sind. Ich hoffe Sie werden eine nette Gastfamilie haben, viel Interessantes erleben werden. Ich beneide Sie, aber freue mich für Sie. Vielleicht werde doch noch 1 Mal verreisen, und wenn es mir gelingt, dann möchte ich Sie gerne in Laa besuchen.
Nun zu Ihren Fragen
1) Meine Mutter hat während des 1. Weltkriegs mit den Speisegesetzen aufgehört, eigentlich nur mit dem geschlachteten Fleisch. Sie sagte immer, sie war froh Fleisch zu bekommen ob es koscher war oder nicht. Aber Milch und Fleisch wurde nicht gemischt. Zu unserem Pessachfesten wurde alles Geschirr gewechselt und kein Brot sondern Matzot gegessen. Ich wechsle kein Geschirr, bin nicht so religiös aber ich esse auch nur Matzot kein Brot während der 1 Woche. Ich war beide Pessach Abende eingeladen wo wir den Auszug aus Egypten in unserer Hagadah gelesen und gesungen und traditionale Speisen gegessen.
2) Als ich schon erwachsen war in der Mittelschule, da hat der Pfarrer gegen die Juden gepredigt und schon empfohlen nicht bei den Juden einzukaufen. (Das war in Laa, auch in Wien war es so, aber es gab viele Pfarrer, Nonnen und Mönche, die jüdische Kinder verborgen hielten) Im Moment wird das 50. Anniversary des Warschau Ghettos Vernichtung „gefeiert“ und gleichzeitig werden die Menschen die ihr leben riskierten, um Juden zu helfen, werden auch gefeiert und verehrt. In Israel wurde für jeden ein Baum gepflanzt.
3) Wir hatten ein schönes Familienleben, wir wohnten bescheiden, meine Eltern waren nicht reich, aber versuchten uns viel zu bieten. Wir lernten Klavier, durften öfters unsere Verwandten in Wien besuchen und wir waren jeden Freitag Abend bei Kitty’s Großeltern, so ein fröhliches Familienbeisammensein, Kitty’s Großmutter war eine vorzügliche Köchin.
Mir geht schon der Schreibstoff aus. Nächstens werde von Ihnen Ihre Eindrücke von Israel hören. Alles Beste Ihnen und Ihrer Familie
Ihre Hilda