Rosa

Wander-Denkmal „Graue Busse“ bei der Aufstellung in München am 14. Juli 2013 – Die Opfer der NS-Euthanasie traten ihren letzten Weg in grauen Bussen an, deren Scheiben undurchsichtig gemacht worden waren. Der Künstler hat den Bus als Symbol für die NS-Euthanasie dargestellt.

Rosa – In Erinnerung an dein unermessliches Leiden

Rosas Geschichte habe ich schon vor sehr vielen Jahren zum ersten Mal gehört, denn es ist nicht nur eine Geschichte aus dem Weinviertel, sondern aus meiner eigenen Familie. Durch die nähere Beschäftigung mit Rosas Schicksal ist auch mein Unverständnis gewachsen, dass die Namen der erwachsenen Opfer der NS Euthanasie bis heute verschwiegen werden. Den Opfern wird wenn, dann pauschal gedacht. Das un-individualisierte Gedenken wird aber den Ermordeten, die direkt aus der Mitte der Gesellschaft, aus jedem Ort, aus jeder 7. oder 8. Familie im deutschen Sprachraum stammten, nicht gerecht.

Wann ich von Rosas Geschichte erfahren habe, kann ich zeitlich nicht mehr einordnen – als ob sie schon immer Teil des eigenen Wissens der familiären Vergangenheit gewesen wäre.
Die überlieferte Geschichte war durch die Jahre etwas verschoben worden, wie sich später herausstellte. Rosa, so hieß es, hatte zwei uneheliche Kinder, doch weil ihre Familie durch den frühen Verlust des Vaters (verstorben an der Spanischen Grippe, der letzten Pandemie vor Corona) arm war, heiratete der Vater ihrer beiden Töchter am Ende eine andere, eine Reichere. Rosa soll mit den Kindern vor dem Elternhaus des Mannes sitzend „du hast mir die Ehe versprochen“ oder ähnliches in ihrem Schmerz herausgebrüllt haben, worauf die beinahe-Schwiegereltern sie abholen ließen, was in der Nazi-Zeit wohl nicht so schwer war, und sie letztendlich vergast wurde.
Puzzlesteine dieser Geschichte haben sich durch meine Recherchen bewahrheitet, andere sind nicht mehr zu verifizieren, die zeitliche Einordnung hat sich verschoben, was Rosas Leid jedoch am Ende nicht kleiner gemacht hat – ganz im Gegenteil.

Anhand der mir vorliegenden Krankenakten aus verschiedenen Archiven konnte ich gewisse Einblicke in die Zeit bekommen, die Rosa überwiegend in der Anstalt „Gugging“ verbracht hat und in sehr geringem Maß auch in jene Vorfälle, die sie dorthin brachten. Wie alle Euthanasieopfer hatte auch meine Urgroßtante Rosa ein Leben vor ihrer Einweisung in eine Anstalt.

Rosa Tlaskal wurde am 19.6.1903 geboren. Die Familie hatte sechs Kinder. Ihr Vater Ludwig Johann Tlaskal wurde am 25.4.1875 in Klosterneuburg geboren. Er war Schuhmacher. Von ihm existiert noch ein Foto. Von seiner Tochter Rosa konnte ich kein Bild finden. Ihre Mutter Magdalena, geb. Höberth, geb. am 15.2.1876, stammte aus Fribritz.
Der frühe Tod des Vaters führte zu einem schnellen Ende der Schullaufbahn ihres zwei Jahre jüngeren Bruders, weshalb man auch davon ausgehen kann, dass Rosas Leben durch den frühen Tod des Vaters eine sehr negative Wendung erfahren hat. Laut Krankenakte besuchte sie allerdings die Schule 8 Jahre lang.
Rosa arbeitete anschließend als Hausgehilfin. Der letzte Anstellungsort ließ sich mit „Am Reinhof“ entziffern, ohne dass sich dessen Lage lokalisieren ließe. Zuständig war sie nach Neudorf bei Staatz, wo die Familie spätestens nach dem Tod des Vater lebte.

Am 27.2.1925 wird Rosa in der Anstalt „Am Steinhof“ aufgenommen. Schon nach wenigen Tagen (am 5.3.1925) wird sie nach „Gugging“ überstellt, wo sie 15 Jahre – bis zu ihrer Ermordung im Jahre 1940 – bleiben sollte. Man bedenke, dass sie 22 Jahre jung war, als sie in die Anstalt kam.

Am 27.5.1924 hatte sie eine ledige Tochter geboren. Daraufhin bekam sie wohl nach heutiger Terminologie eine Wochenbettdepression und hörte vorübergehend auch Stimmen. In der Krankenakte spricht sie auch von einer immer noch vorherrschenden „Kränkung“, also Traurigkeit, durch den frühen Tod des Vaters (1925 war dieser 6 Jahre her), der sie in dieser Zeit ganz besonders belastet hat. Bei ihrer Aufnahme wird sie als „ruhig, fügsam, leicht gehemmt“ beschrieben, was auch durch die Einschüchterung einer einfachen Frau umgeben von Doktoren zu erklären ist. Ihr Gewicht betrug 60 kg. Sie wird als mittelgroß beschrieben. Nur durch die Krankenakte wissen wir, dass sie blond war und gelblichgraue Augen hatte.

Rosa gibt zwei Mal Angaben über den Grund ihrer Aufnahme in die Anstalt an. Im Aufnahmebogen steht unter Anamnese: „Weil sich draußen niemand um sie annähme sei sie hereingekommen (= „in die Klinik gekommen“).“
Am 5.3.1925, dem Tag ihrer Aufnahme, liest man im Beobachtungsbogen, dass die Patientin „sagt, sie ist wegen ihrem Kind in die Anstalt gekommen. Der Vater vom Kind schaut sich nicht um; hat mich deshalb sehr gekränkt, bin aber garnicht geisteskrank.“ Dieser Schlusssatz ist einer der wenigen, in dem Rosa selbst spricht. Es ist ihr bewusst, dass dies eine Anstalt für Geisteskranke ist und dass sie eigentlich hier gar nicht hingehört.

Der Grund für ihre Einweisung ist die Ablehnung durch den Kindesvater, die gesellschaftliche Verachtung und vielleicht sogar Vogelfreiheit einer jungen alleinerziehenden Mutter, die nicht einmal mehr einen Vater hat. Diese Vogelfreiheit zeigt sich an einem Vorfall, den sie von ihrer Zeit vor der Anstalt berichtet. Es ist eine der ganz wenigen Informationen, die von Rosa selbst stammen, also keine Beobachtungen sind, und die von der Zeit vor der Einweisung erzählen:
Am 12. November 1925 lautet der Eintrag: Patientin „gibt auf eindringliches Fragen stockend u. leise Antwort über den Vater des Kindes sagt er heißt Kantner und ist auch der Vater vom ersten Kind. Sagt im Fasching im 24. Jahr sind sie nach der Tanzunterhaltung zusammen gekommen aber es sind mehr Burschen zu ihr durchs Fenster gestiegen die haben sie sekkiert mit Wasser angeschüttet einen Stecken in den Abort getunkt und damit auf ihre Tuchent (= Dialekt für Bettdecke) geschlagen und sie damit beschmutzt.“

Dieser Eintrag greift schon ein wenig voraus. Rosa ist nie mit zwei Kindern vor der Tür des Vaters ihrer Kinder gesessen, wie die „alte Erinnerung“ erzählt, denn ihre zweite Tochter hat sie erst am 15.10.1925 entbunden, als sie bereits seit über 8 Monaten in der Klinik war. Hat eine erneute Annäherung und Ablehnung durch den Vater ihres ersten Kindes zum endgültigen Absturz geführt, der sie in die Klink brachte? Waren es Grausamkeiten wie von jene der Dorfjugend, die Rosa beschrieben hat? Die Antwort ist für immer mit Rosa ausgelöscht worden. Ob es jemals eine ähnliche Szene gab wie die, die in der Familienerinnerung beschrieben wurde? Man kann von einem wahren Kern ausgehen. Mehr kann man dazu nicht sagen.

So wenig man durch die Krankenakte erfährt, so scheint die Geburt der zweiten Tochter eine Änderung in Rosas Verhalten veranlasst haben. Am 5.7. und 20.7.1925 wird beschrieben, dass sich Rosa ins Fenster zu stürzen versucht bzw. einen Stuhl zerbricht, um eine Fensterscheibe einzuschlagen. Ob das als Fluchtversuch zu werten ist? Es ist dokumentiert, dass es durchaus immer wieder Fluchtversuche aus Gugging gab, die teilweise wohl auch erfolgreich waren. Am 29.7. wird ihre Schwangerschaft festgestellt. Sie versucht anscheinend nie wieder zu fliehen. In den Tagen nach der Geburt wird sie als unruhig beschrieben, sie jammert, fragt nach ihrer Mutter und sagt, dass sie nicht hierbleiben will. Das Kind hat man ihr noch am selben Tag weggenommen und ins Säuglingsheim Baden gebracht. Sie hat es Josefine – nach dem Kindesvater Josef Kantner – genannt.

Bis 1929 wird Rosa hin und wieder von Familienmitgliedern besucht. Die Mutter hat sie zwei Mal kurz nach ihrer Einweisung besucht. Sie ist jetzt der Vormund von Rosas älterer Tochter. Ob sie sie später noch einmal getroffen hat und ob Rosa ihr Kind wiedergesehen hat, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Die Einträge werden mit den Jahren immer spärlicher. Im Jahr 1930 umfassen sie nur noch einen einzigen Eintrag von wenigen Schlagworten.

Es fällt auf, dass sich Rosa zu einem gewissen Zeitpunkt aufgegeben hat. Es ist schwierig, zwischen den lieblosen Zeilen noch etwas von ihrem Leben zu erahnen. Sie wird oft mit der Zwangsjacke beschränkt, unter anderem auch während den Mahlzeiten, was dazu führt, dass sie immer auf Essenssuche ist und versucht, an Essen zu kommen.

Ab 1938 wird immer wieder beschrieben, dass sie sich Zöpfe flicht, sowie Fäden sammelt und in die Haare einflicht. Ihren Töchtern konnte sie nie die Haare flechten.

Rosa hat mit den 15 Jahren einen großen Teil ihres Lebens in Gugging verbracht. Weil sie schon so lange in Gugging war, ist sie im ersten Transport, der von Gugging nach Hartheim geht, wo sie vergast wird. In ihrer Akte ist das Datum 12. November 1940 mit roter Tinte eingestempelt und ein anderer Stempel behauptet „in eine der Direktion nicht genannten Anstalt übersetzt“, ein Synonym für die Fahrt in den sicheren Tod. Die 205 km von Gugging nach Hartheim legte sie wohl im Bus zurück. Da bis zu 80% aller Opfer vor dem Weg in die Gaskammer noch einmal fotografiert wurden, hat sie vielleicht in diesen letzten Minuten sogar noch einmal in eine Kamera geblickt. Nicht mehr viel wird das Foto von der 22-Jährigen eingefangen haben, die vor 15 Jahren in eine Anstalt kam, um eines Tages gesund entlassen für ihre Tochter zu sorgen. Die damals aufgenommenen Fotos wurden alle vorsorglich von den Nazis vernichtet, und in gewissem Sinn ist es gut, dass das nicht das einzige Foto ist, das von ihr übrig geblieben ist.

Nach ihrem Tod in der Gaskammer wurde Rosas Asche wahrscheinlich in die Donau gestreut. Es sollte beinahe 80 Jahre dauern, bis ihr Name in den Familiengrabstein eingraviert wurde. Ihr Schicksal und ihr Name steht für etwa 200.000 Opfer der NS-Euthanasie, deren Namen bis heute nicht erinnert werden.