In Memoriam

In Memoriam Dr. Felix Yokel

Ich habe Felix als eine sehr ruhigen, bescheidenen, großzügigen und toleranten Menschen kennengelernt. Wenn man seine Lebensgeschichte liest, so kann man ohne Übertreibung von stiller Größe sprechen. Im Mittelalter glaubten die Menschen, dass sie groß seien, weil sie auf den Schultern von Riesen (den Denkern der Antike) stünden. Felix, du warst mein Riese.

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München, 4. Juni 2010

Mein lieber Felix,

wenn ich an dich denke, kommen mir viele Erinnerungen in den Kopf.

Ich denke daran, dass du mir einfach sehr viel zugetraut hast. Ich war 19, als ich deine Frau und dich zum ersten Mal besuchte. Ich wäre von selbst nie auf die Idee gekommen, einen Vortrag im Holocaust Memorial Museum zu machen. Mein Englisch war damals sicher nicht gerade das beste – ich war ja eben aus dem Gymnasium gekommen. Du trautest es mir einfach zu. Ich hatte immer das Gefühl, dass du von mir dachtest: „Du schaffst das schon.“ Es war für dich keine Frage, du dachtest es mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie du in einem Sommer nach der 7. Klasse Gymnasium Tschechisch gelernt hast und am Ende des folgenden Schuljahrs auf Tschechisch maturiert hast. Wenn man dich fragte, wie es möglich sei, dass du so sprachbegabt warst, wo deine große Stärke doch die Mathematik war, dann hast du so getan, als ob das alles keine große Sache gewesen wäre, als ob ich das sicher auch gekonnt hätte. Sind wir ehrlich, kaum jemand hätte dir das nachgemacht. Doch für dich war es ebenso selbstverständlich, wie, dass du an mich geglaubt hast. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit hast du deinen Enkelkindern, die dir alles bedeutet haben, alles zugetraut. Dein Glaube an mich hat mich größer und stärker werden lassen. Er beflügelt mich noch heute.

Man sagt heute oft, es würde heute nur mehr „Fachidioten“ geben, denn wer würde schon über wirkliche Allgemeinbildung verfügen. Man spricht von „Renaissancemenschen“, wenn man ausdrücken will, dass es nur noch in dieser weit entfernten Epoche möglich war, über wirklich alle Themen und Wissenschaftsbereiche Bescheid zu wissen, doch du hast alle Lügen gestraft, die so denken. Du warst sicherlich ein großer Mathematiker, doch aus reinem Interesse hast du schon im Gymnasium Englisch gelernt, von Tschechisch war bereits die Rede. Doch so sehr du ein wahrer Meister deines Fachs warst, wie immer nebenbei im Gespräch zu merken war, wenn du erzählt hast, bei welchen Projekten du für die amerikanische Regierung gearbeitet hast (wie zum Beispiel Pipelines, die extrem starke Erdbeben aushalten), so sehr warst du belesen und wußtest über so unendlich vieles Bescheid. Die Gespräche mit dir werden mir unvergessen bleiben. Du warst immer ein guter Ratgeber und hattest immer ein offenes Ohr für Probleme oder Anliegen. Seien es die Schwierigkeiten des Studiums oder 2002 wegen drohendem Hochwasser. Damals hast du mich beruhigt, indem du versichern konntest, dass aufgrund der geologischen Gegebenheit alles nicht so schlimm werden würde – schließlich ist es dann auch genau so gekommen.

Dein mathematisches Genie hat mich immer wieder in Erstaunen versetzt. Für dich schien es eine so natürliche Sache wie das Atmen zu sein, Grad Celsius in Fahrenheit in Sekundenschnelle auf mehrere Kommastellen genau umzurechnen. Oder ich denke an einen Besuch im Schloss Eisgrub, als du so im Vorbeigehen ganz leise bemerktest, dass der künstliche See eine andere Menge Wasser umfassen musste, als die Führerin eben genannt hatte (sie hatte sich länger über Grundriss und Tiefe geäußert, was sich der Rest der Gruppe sicher nicht mal annähernd gemerkt hatte). Mathematik war einfach ein natürlicher Bestandteil deines Lebens.

Sehr am Herzen ist dir auch die Natur und ihre Erhaltumg gelegen und das zu einer Zeit, als die heutigen Naturkatastrophen noch nicht passiert und Klimawandel und die ökologische Bedrohtheit noch viele, viele Jahre kein Thema wie heute waren. Du warst ein großer Vogelfreund und obwohl du, seit wir uns kannten, ein Hörgerät getragen hast, hast du dir diese Leidenschaft nicht nehmen lassen. Auch wenn du die Vögel wohl oft nicht mehr gehört hast, so hast du sie entdeckt, als ich sie noch lange nicht in den Baumwipfeln der Thaya-Auen erspäht hatte. In Israel, das für zwei Jahrzehnte deine Heimat war, hast du als Sponsor dazu beigetragen, dass ein wichtiges Vogelschutzgebiet, der Hula Nationalpark, erhalten werden konnte. Wann immer ich an einem nicht für Vögel offensichtlichen Ort eine Feder liegen sehe, denke ich an dich. Manchmal habe ich Federn an den unwahrscheinlichsten Orten gefunden. Ich erinnere mich an einen Nachmittag direkt nachdem du und Shoshanna nach einem Besuch abgereist wart. Es waren lange Tage gewesen und beim Lesen eines Buches schlief ich in meinem Zimmer in meinem Elternhaus ein. Als ich aufwachte lag eine Feder neben dem Buch. Das Fenster war geschlossen. Ich weiß bis heute nicht, wie es möglich war, dass sie dort hinkam.

Es rührt mich unendlich, wenn ich daran denke, dass du, als ich beinahe heiratete, Tanzstunden nahmst, weil ich mir gewünscht hatte, den „Tennessee Waltz“ mit dir zu tanzen. Das Leben hatte anderes mit mir vor, doch den Tennessee Waltz haben wir auf der Hochzeit meiner Schwester spontan nachgeholt. Wie es nun leider bei so bekannten Melodien oft der Fall ist, gibt es unzählige Versionen und der DJ legte uns eine sehr, sehr schnelle Version auf – irgendwie haben wir es trotzdem hingekriegt. Egal bei welcher Version, eine Träne wird mir bei dieser Melodie immer in die Augen kommen.

Deine Familie, deine Kinder und Enkel waren dir sehr wichtig und du auch ihnen. Bis heute bist du das große Vorbild und der Zusammenhalt für deine ganze Familie. Es war dir sehr wichtig, dass deine Kinder und Enkel den Ort kennenlernen, an dem du geboren und aufgewachsen bist. So warst du mit deinen ältesten Enkelkindern in Laa, als das Denkmal noch lange nicht Realität war. Ein großer Schmerz war für dich der Verlust deiner Eltern, die Sehnsucht nach ihnen und eine gewisse Sorge, ob du irgendwie noch mehr für sie hättest tun können und ob dein Weggehen auch richtig war, auch wenn du nur so überleben konntest. So war es dir sehr wichtig, deine Eltern unter den auf den Wänden der Prager Pinkas-Synagoge aufgeschriebenen Opfern der Shoa zu finden. Wenn du über sie sprachst, so tatest du das immer auf eine Art und Weise, die von großem Respekt, großer Zuneigung und einer glücklichen Kindheit zeugte. Auch ihnen war, wie dir, Bildung, Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt, aber auch das Festhalten an manchen Traditionen und Werten wichtig. So lasen deine Eltern jiddische Literatur, als diese wegen einer kurzsichtigen Betrachtungsweise allgemein nicht gerade geschätzt wurde. Auch bei dir zu Hause hätte es keinen Freitagabend ohne Callah gegeben, über die du den Segen gesprochen hast.
Als du nach all den Jahren einmal eingeladen wurdest, dein ehemaliges Elternhaus anzusehen, wurdest du ganz still. Als du das Haus verlassen hast, war der Mond aufgegangen, du sagtest nur leise: „Es ist Pessach.“ Es war nicht nur einfach ein Pessachabend, Pessach bedeutet auch „Vorübergang des Herrn“.

Zum Abschluss noch zwei Anekdoten, an die ich mich gut erinnere:

Ich bekam etwa zur Zeit meiner Matura meinen ersten Computer und das war damals beinahe eine Sensation. Ich kann mich noch gut erinnern, als du von den ersten Vorläufern der heutigen Computer erzählt hast, mit denen du während deiner Forschungstätigkeit in Amerika gearbeitet hast. Damals drucktest du in langem, fortlaufenden Papier die Ergebnisse deiner Berechnungen aus. Wie man in deiner Lebensgeschichte nachlesen kann, hast du damals extrem viele Stunden je Tag gearbeitet. So passierte es ein Mal, dass du, auf eine Berechnung des Computers wartend, einschliefst. Als du am nächsten Morgen aufwachtest, war der Raum voll mit dem teuren, bedruckten Papier, denn der Computer hatte sich in einer Endlosschleife verfangen.

Eine Anekdote der ganz anderen Art: Ein klein wenig war dein Deutsch von dem Südmährischen aus deiner Jugend in Miroslav gefärbt, weshalb dich Shoshanna auch immer wieder liebevoll aufzog. Das war eigentlich immer dann der Fall, wenn es Kuchen gab, denn auf die Frage, ob du Kuchen magst, sagtest du dann „ein Dinnes“, für „ein dünnes Stück“. Shoshanna lachte dann immer und wies dich darauf hin, dass man mit lauter dünnen Stücken auch den ganzen Kuchen aufessen kann.

Felix, du und Shoshanna habt mich bei euch aufgenommen, wie man es sich von den engsten Verwandten wünschen würde. Ich habe mich in eurem Haus in Maryland immer zuhause gefühlt. Ihr habt mir so viel von Amerika gezeigt, ich war bei euren Kindern und fühlte mich wie ein hoch geschätzter Teil eurer Familie. Ihr habt mein Leben so sehr bereichert und werdet immer in meinem Herzen sein.

Deine

Lena

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Wenn Sie mehr über Dr. Felix Yokel erfahren möchten, so können Sie seine Rede zur Denkmaleröffnung und die von ihm selbst verfasste Lebensgeschichte in meiner Übersetzung lesen, sowie einige Bilder von ihm sehen.

Dr. Felix Yokel war maßgeblich an der Entstehung des Denkmals für die jüdische Gemeinde, das gemeinsam mit dem Verein „Lead Niskor“ realisiert werden konnte, beteiligt. Ohne seine großzügige Spende und den Entwurf seines Sohnes, des Architekten Uri Yokel, würde das Denkmal heute nicht existieren. Ich bin dankbar, dass er mit seiner ganzen Familie zur Denkmaleröffnung aus den USA anreiste. Besonders dankbar bin ich, dass er die Eröffnung noch erleben konnte. Im Herbst des selben Jahres verstarb er nach kurzer schwerer Krankheit.

Hier gelangen Sie zum englischsprachigen Nachruf der Washington Post.

Hier gelangen Sie zum deutschsprachigen Nachruf von Gedenkdienst.at