Ernst Neumann

Lebensgeschichte Arie Naman (früher Ernst Neumann)

Im Folgenden werde ich versuchen, die Ereignisse aufzuschreiben, die ich in meinen frühen Jahren erlebte und mit denen ich mich auseinandersetzen musste – vom Alter von zehn Jahren an, als ich mit meinen Eltern an meinen Geburtsort, meiner so genannten „Heimatstadt“ Laa an der Thaya, zurückkehrte.

Während ich am örtlichen Gymnasium Schüler war, musste ich schon bald die antisemitischen Tendenzen meiner Mitschüler erleben. Mein Cousin war mit mir in der gleichen Klasse und oft mussten wir wirklich kämpfen, um mit all dem Verhalten, das sich gegen uns richtete, zurecht zu kommen. Die Lehrer und der Direktor schauten weg und wollten es nicht hören, sich einfach nicht darum kümmern. Ich war ein begeisterter Fußballspieler, und wann immer ich am Ball war, riefen mir die Jungen, die zusahen, „Hauruck nach Palästina“ zu. Schlimmer war der Antisemitismus, der uns von einer Gruppe junger erwachsener Männer im Alter von 20 bis 25 Jahren entgegenschlug. Sie schlenderten auf den Straßen herum, waren teilweise in Uniformen, teilweise in braunen Hemden. Ganz offen zeigten sie das Hakenkreuz und schrieen „Heil Hitler“ – und das schon zwischen 1930 und 1934, lange vor dem Anschluss, und sogar bevor Hitler in Deutschland an die Macht kam. Meiner Lebensgeschichte beigelegt findet sich der Artikel, der von einer 17-jährigen Schülerin stammt, die katholisch ist und in Laa geboren wurde. Er zeigt, dass auch heute einiges nicht so ist, wie es sein sollte.

Als ich die 4. Klasse des örtlichen Gymnasiums beendet hatte, ging ich nach Wien auf eine Handelsakademie. Zwei Jahre später begann ich nebenher eine Lehre in einer jüdischen Lederfabrik in Wien.

Nach dem Anschluss an Deutschland im Jahre 1938 wurde das Leben für uns Juden unerträglich und so bereitete ich mich darauf vor, Österreich zu verlassen. Ich informierte meinen Meister – ich war ja Lehrling – über meine Absichten und er gestattete mir, bis zum Tag meiner Abreise bei ihm weiterzuarbeiten. Dann begann ich, alles im Detail zu planen, darunter, wo ich übernachten konnte, die genaue Gestaltung meiner Reise und so weiter. Ich musste mich nicht wegen eines Passes sorgen, da ich von meinen früheren Reisen einen besaß.

Ich schrieb mich in einer Fahrschule ein, um meinen Führerschein zu machen und nach etwa 20 Stunden war ich bereit für die Fahrprüfung. Dort wartete eine Überraschung auf mich. Mein Prüfer war ein SS-Leutnant in schwarzer Uniform, was mich innerlich zittern ließ und ich machte mir vom ersten Moment große Sorgen. Aber es gab nichts, was ich hätte tun können, als gut zu fahren und das Beste zu hoffen. 30 Minuten lang musste ich eine recht schwierige Strecke fahren und plötzlich sagte er mir, dass ich anhalten solle. Wir stiegen aus dem Auto und er sagte mir, dass ich die Prüfung bestanden hätte, aber da ich Jude sei, wäre es ihm nicht gestattet, meine Hand zu schütteln, um mir zu gratulieren, aber er wünsche mir alles Gute. Ich dankte ihm und so trennten sich unsere Wege.

Ich ging in ein Reisebüro und beauftragte sie, Reiseunterlagen für mich für eine Reise nach Finnland zusammenzustellen. Ich wusste von Freunden, dass es möglich war, ein Visum zu bekommen, wenn man ein Rückfahrtticket besaß, das 30 Tage gültig war. Während der vergangenen Wochen und Monate hatte ich ohne Erfolg versucht, meine Eltern davon zu überzeugen, Österreich auch zu verlassen. Aber mein Vater wies den Gedanken von sich, denn er glaubte, dass uns Dreien (meiner Mutter, ihm und mir) nichts passieren könnte, da er ein pensionierter Offizier der österreichischen Armee war. Er versuchte sogar, mich zu überzeugen, auch in Österreich zu bleiben. Weiters sagte er, dass er sowieso zu alt sei und auch zu müde, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen.

Nach ein paar Tagen kehrte ich zum Reisebüro zurück und alles lag dort schon für mich bereit. Ich bezahlte meine Tickets und das Visum, und drei Tage später brachte mich mein Vater zum Bahnhof. Wir küssten einander zum Abschied, wir verabschiedeten uns wortlos.


Totenscheine der Eltern von Ernst

Meine erste Station war Berlin, von wo ich mit einem Taxi zum Bahnhof Stettin fuhr. Als ich dort ankam, wurde ich vom Jüdischen Komitee empfangen, die dort Leuten wie mir halfen, indem sie Fragen beantworteten. Sie boten mir an, ein paar Tage bei einer jüdischen Familie zu übernachten und auf meine Abreise nach Helsinki zu warten. Ich war froh über ihr Angebot, und nach ein paar Tagen war ich am Schiff nach Helsinki. Außer mir waren ungefähr 30 Leute an Bord, und zu meiner großen Überraschung auch mein Onkel Moritz mit seiner Familie. Nach einer ziemlich stürmischen Überfahrt kamen wir am späten Nachmittag im Hafen von Helsinki an. Dort erwartete uns eine große Überraschung. Zuerst wurde uns gesagt, dass wir bis zum Morgen warten müssten, bis wir aussteigen könnten. In der Früh wurde uns gesagt, dass die finnischen Behörden uns zurückschicken würden, obwohl wir gültige Pässe und Visa hatten. Der deutsche Kapitän tat alles, um uns in Tallinn (Estland) von Bord gehen lassen zu dürfen, doch vergeblich. So begann unsere Rückreise nach Stettin.

In Stettin wartete bereits die Gestapo auf uns im Hafen, aber sie taten im ersten Moment nichts. Ich ging zu meinem früheren Gastgeber und wartete. Ein paar Tage später sagte mir jemand, dass es die Möglichkeit gebe, ohne ein Visum mit dem Motorboot als Tourist nach Dänemark einzureisen. Alles, das man brauchte, war ein gültiger Pass und eine Rückfahrkarte. Ich nahm diese Chance wahr und kam so nach Kopenhagen. Als ich das Boot verlassen hatte, fand ich auch nach einiger Suche ein Zimmer, das ich mieten konnte. Ich dachte, dass jetzt alles gut sei. Bald stellte sich heraus, dass ich nicht Recht hatte. In Kopenhagen – wie im Rest Europas – musst sich jeder bei der Polizei registrieren, indem man einen Meldezettel ausfüllte. Ich trug mich, wie gefordert, ein, aber ich gab an, dass ich ein politischer Flüchtling sei, was sich als Fehler herausstellte, denn 2 Wochen später kam die Polizei in mein Zimmer, befragte mich und schloss, dass ich, wenn ich ein „politischer“ Flüchtling sei, ein Kommunist sein müsste. Aus diesem Grund fackelten sie nicht lange und brachten mich direkt zum Hafen, von wo aus ich zurückgeschickt werden sollte. Ich war darüber ziemlich aufgebracht, denn ich dachte, dass mich das Jüdische Komitee, das mich bei meiner Ankunft erwartet hatte, über die verschiedenen Hürden der Einreise informieren hätte müssen. Letztendlich wurde mir gesagt, dass das Jüdische Komitee Flüchtlinge anwies, nicht anzugeben, dass sie jüdisch sind, sondern vorzugeben, Dänen zu sein.

Bei diesem, meinem zweiten Besuch in Stettin (dieses Mal mit Eskorte), bereitete mir die Gestapo bereits einen Empfang am Hafen. Mir wurde gesagt, dass ich in der Stadt bleiben sollte, bis sie mich einbestellen würden. Ich wurde auch angewiesen, mein ganzes ausländisches Geld umzuwechseln, was ich nur teilweise tat, da ich ja schon so meine Erfahrungen durch meine vorherige Rundreise hatte.

Nach ein paar Tagen wurde ich ins Gestapo Hauptquartier am Stettiner Hafen bestellt. Dort wurde ich angewiesen, ein jüdisches Ehepaar aus Mattersburg (wo ich übrigens in die Volksschule gegangen bin) nach Prag zu bringen. Der Grund dafür war, dass dieses Ehepaar eine riesige Summe Bestechungsgeld bezahlt hatte, um aus dem besetzten Gebiet herauszukommen. Um die Wahrheit zu sagen, machte es mir ziemlich Angst, so eine Verantwortung zu übernehmen, da ich ja bloß 19 Jahre alt war. Die Gestapo versicherte mir, dass ich mich nicht sorgen sollte, denn durch meine vorherigen Grenzübertritte sei ich ja ein Experte im Kommen und Gehen und alle Grenzbeamten würden informiert sein. Wenn nichts schief ginge, sollte ich sie einfach dort lassen und über die grüne Grenze (die Berge) gehen. Sie sagten: „Wir hoffen, du kriegst das hin.“ Ich hatte keine Wahl, und da ich so schnell als möglich von der Gestapo wegkommen wollte, nahm ich an. Dann bekam ich genauere Instruktionen, mein österreichischer Pass wurde mir weggenommen, weil er bewies, dass ich Jude bin, weshalb ich nicht in die Tschechoslowakei einreisen und dann auch nicht nach Österreich zurückkommen könnte, und ich bekam einen deutschen Pass. Mir wurde gesagt, dass ich ein Touristen-Bahn-Rundreise-Ticket kaufen sollte, von Stettin nach Stettin, über Prag – Bukarest – Belgrad – Wien und Berlin. Beides, der deutsche Pass und das Touristen-Rundreise-Ticket, machte diese Reise „koscher“ und eigentlich hatte ich Glück, auf diese Reise geschickt und nicht verhaftet worden zu sein. Dieses Glück wurde durch die Gier der Nazis begünstigt, die das Geld des Ehepaars wollte, das ich über die Grenze bringen sollte. Letztendlich, als ich all die Informationen erhalten hatte, wurde das Ehepaar hereingebracht und wir durften das Gestapo-Hauptquartier verlassen. Es stellte sich heraus, dass das Ehepaar eigentlich Mutter und Sohn waren. Wir erreichten Prag ohne Zwischenfälle und ich brachte sie dort hin, wo ich sollte, und damit war meine Mission erfüllt.

Ich kann mich nicht an das genaue Datum erinnern, an dem ich in Prag ankam, aber es war gegen September 1938. Die erste Woche verbrachte ich in einem Hotel, aber ich suchte nach einem Zimmer, nicht im Zentrum von Prag, sondern in einem Vorort, wo zumeist Arbeiter wohnten und wo ich nicht auffallen würde. Nach ein paar Tagen hatte ich das Glück, im Arbeiterbezirk Holesovice ein möbliertes Zimmer zu finden. Eigentlich war das Zimmer groß genug für zwei, aber ich wollte keinen Fremden bei mir haben, so machte ich mit dem Vermieter aus, dass ich das Zimmer ganz alleine bezahlen würde. Ich zog ein und war froh. In der Zwischenzeit versuchte ich, meine Eltern in Wien anzurufen und es gelang mir auch, da es zu dieser Zeit noch keine Probleme diesbezüglich gab und die Verbindungen noch funktionierten. Sie waren ziemlich überrascht, zu hören, dass ich in Prag war. Ich erzählte ihnen, was geschehen war, und bat sie, mir Geld zum Leben zu schicken und sagte, dass es nur einen Weg gäbe, um hier sicher herauszukommen, und das sei die Einreise nach Palästina, die auch finanzielle Mittel benötigte. Es gab damals schon in meiner Umgebung Gerüchte, dass Hitlers nächstes Ziel das Sudetenland und die Tschechoslowakei sein würden. In den Zeitungen stand geschrieben, dass Länder wie Großbritannien, Frankreich und Russland versprochen hätten, dem Land zu helfen und es nicht in Stich zu lassen. In der Zwischenzeit sah ich mich um, um herauszufinden, was ich tun konnte, wo ich essen konnte und so weiter. Zu meiner Überraschung traf ich eines Tages meinen Onkel Moritz mit seiner Familie, die es auch geschafft hatten, nach Prag zu kommen und jetzt zu fünft in einer Wohnung lebten. Ich war glücklich, denn jetzt hatte ich jemanden, mit dem ich sprechen konnte. Wir besuchten einander beinahe jeden zweiten Tag. Sie hatten andere Pläne für ihre Zukunft als ich, aber mein Cousin war in meinem Alter und er teilte meine Gedanken und Einstellungen. Von Zeit zu Zeit rief ich meine Eltern an, und bei einem dieser Gespräche erzählte mir mein Vater, dass er Vorkehrungen getroffen habe, um jemandem im Wien Geld zu übergeben, das an eine Firma hier in Prag überwiesen werde, um für mein Ticket nach Palästina zu bezahlen. Niemand wusste, wann dieser Transport losgehen sollte, doch zumindest wusste ich, dass für mich gezahlt worden war. Ich bekam auch die Adresse eines Cousins meiner Tante, die in Prag lebte. Meine Tante würde mir ihm sprechen und er würde mir helfen. Ich ging auf ihn zu und es stellte sich heraus, dass er ein Anwalt war und in der Innenstadt wohnte. So hatte ich einen Bekannten mit Ortskenntnis, mit dem ich sprechen konnte und der mir einen Rat geben konnte, wenn ich einen bräuchte. Er lud mich von Zeit zu Zeit zum Mittag- oder Abendessen ein. Ich habe die Möglichkeit seiner Unterstützung aber nie genutzt, da ich keinen wirklichen Bedarf danach hatte. Ich konnte mich mit ein paar Leuten anfreunden, die älter waren als ich und von denen ich lernen konnte, wie ich mit Problemen und Situationen umgehen konnte. Ich selbst war doch ziemlich jung und unerfahren. Daraus resultierend konnte ich mich später richtig verhalten.

Die Zeit verging und die Situation wurde schlimmer. Die Leute hatten Angst vor der Zukunft. Für uns gab es keinen anderen Weg hinaus als Ausreisepapiere nach Amerika, Kanada oder für einen anderen Staat zu bekommen, aber kaum jemand von uns hatte das Geld dafür. Die Tochter meines Onkels heiratete und ihre Mutter machte sich Sorgen, was aus ihren Kindern werden würde. Mein Cousin wurde ein Mitglied des Betar, meine jüngste Cousine war erst 12 Jahre alt. Nach vielen Versuchen konnte meine Tante letztendlich einen Platz in einem der letzten Kindertransporte, die nach England gingen, bekommen. So fuhr meine Cousine nach etwa 14 Tagen zu Pflegeeltern nach England. Die ganze Familie und auch ich waren an der Bahnstation, um uns von ihr zu verabschieden und um ihr viel Glück für die Zukunft zu wünschen.

Plötzlich, wie erwartet, annektierte unser Freund Hitler das Sudetenland mit dem Versprechen, dass er auch bald die Tschechoslowakei einnehmen würde. Wie es auch schon in Österreich und an anderen Orten geschehen war, glaubten auch die Juden in der Tschechoslowakei, es könne ihnen nichts geschehen, und sie schoben ihre Abreise oder Flucht immer wieder auf. Niemand konnte davon überzeugt werden, dass eine Katastrophe bevorstand. Nach einiger Zeit konnte man am Hauptpostamt keine Telefonverbindung mehr herstellen lassen und die Besitzer von Privathäusern hatten zu viel Angst, um uns ihre Anschlüsse benützen zu lassen. So wurden die Verbindungen gekappt.

Mein Cousin und ich machten Vorbereitungen, um nach Palästina zu gehen. Ihm wurde von Betar ein Platz auf dem Perl-Transport zugesichert. So hofften wir, bald gute Neuigkeiten zu hören, und warteten geduldig. Ich traf ein paar Freunde von mir, die ich von früher kannte, und ich freundete mich mit einem Christen an, der aus der Gegend stammte. Er warnte mich, als Hitler kurz davor stand, einzumarschieren, und sagte mir, ich solle ohne Verzögerung ausreisen. Ich sagte ihm, dass es bereits das zweite Mal war, dass Hitler mir gefolgt sei und wo auch immer ich gehen würde, er würde mich einholen, da er überall sein wolle. In dem Moment, in dem ich diesen Satz beendet hatte, brach mein Freund in schallendes Gelächter aus. Das war das Zeichen für mich, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Wir trennten uns und ich sah ihn niemals wieder.

Der nächste Tag war sehr anders. Jeder von uns hatte große Angst, war wütend und depressiv, aber es gab nichts, das wir tun konnten. Ich war sehr vorsichtig, und versuchte, gewisse Leute zu meiden. Trotzdem machte ich einen großen Fehler, der mich das Leben hätte kosten können.

Eines Tages saßen wir zu fünft – drei Jungen und zwei Mädchen – auf einer Bank gegenüber dem Hauptbahnhof. Wir diskutierten, ob es gut sei, nach Palästina zu gehen oder nicht, da wir verschiedene Gerüchte gehört hatten. Ich gebe zu, dass ich der Wortführer war. Plötzlich kam ein junger Mann im Trenchcoat auf mich zu, gab sich als Gestapo-Mann zu erkennen und sagte mir, ich solle mitkommen. In diesem Moment dachte ich, ich sei erledigt. Aber wieder einmal konnte ich nichts dagegen tun. Er führte mich ins Gestapo-Hauptquartier, das in der Nähe war, im Petschek Palais, wo ich verhört werden sollte. Ich wurde die Treppe hinaufgeführt in ein Büro, wo er mich zurückließ. Mir gegenüber saß ein Mann von etwa 25 Jahren. Er trug Zivilkleidung. So begann das Verhör: Dein Name, leer die Taschen aus, lehne dich gegen die Wand, du stinkst nach Knoblauch, und so weiter und so weiter. Er schlug meinen Namen in einem so genannten Meldebuch nach, das etwa so dick wie ein Telefonbuch war. Er konnte meinen Namen, Ernst Neumann, aber nicht darin finden. Er war sehr erstaunt darüber und fragte mich, wie das möglich sei. Ich wusste keine Antwort und schwieg. Dann sah er sich den Inhalt meiner Taschen an und fand ein Bild meines Vaters in der Uniform des Offiziers der Österreichischen Armee. Er machte große Augen, fragte mich, wer das sei, und ich antwortete, es sei mein Vater. Ich sagte, es sei eine Gegebenheit des Lebens, dass es auch jüdische Offiziere in der Armee gegeben hätte. Er war für einige Momente still und dann wies er mich an, meine Sachen zu nehmen. Dann war er wieder für einige Zeit still und nach etwa 10 Minuten sagte er mir, ich könne gehen, aber ich müsste das Land veranlassen, wenn nicht, und man mich wieder aufgreifen würde, so wäre dies mein Ende. Man kann sich fast nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, und ich verließ das Gebäude, so schnell ich nur konnte. Auf der Straße traf ich ein paar Leute, die mich kannten, und sie fragten mich, was los sei, da ich leichenblass war. Ich erzählte ihnen, was geschehen war, und sie waren überrascht, dass jemand so viel Glück haben konnte, dass er so aus den Fängen der Gestapo entkommen konnte.

Der Krieg brach aus, Hitler eroberte Polen, nachdem er mit Frankreich, England und Russland Abkommen unterzeichnet hatte. Wir fühlten uns, als wenn Prag die Hölle wäre. Ich versuchte, so schnell ich nur konnte, die Stadt zu verlassen. Die Leute, die den Transport nach Palästina organisierten, sagten mir, dass es noch ein paar Wochen dauern könnte, bis alles so weit sei. In der Zwischenzeit erlangte Hitler einen fulminanten Sieg über Polen. Die Siegesparade wurde in Prag auf dem Wenzelsplatz im Oktober 1939 abgehalten.

Eines Tages bekam ich die Nachricht, dass wir am 31. Oktober 1939 nach Palästina abreisen würden. Wir fuhren mit dem Zug nach Bratislava, wo wir 3 Tage in einer Schule eingesperrt warten mussten, bis wir auf das Donau-Passagierschiff „Saturnus“ gehen konnten, das aus Wien mit Juden an Bord kam und in Richtung des rumänischen Schwarzmeerhafens Sulina fuhr. Plötzlich wurde mein Name aufgerufen und es stellte sich heraus, dass Leute aus Wien nach mir suchten. Sie waren Freunde des Bruders meiner Mutter, der ein Arzt in Wien war, und so waren sie gebeten worden, sich um mich zu kümmern. Sie lachten, als sie sahen, dass ich schon erwachsen war und mich um mich selbst kümmern konnte. Wir blieben auch in Palästina Freunde. In der Nacht, in der wir Bratislava in Richtung Sulina verließen, fuhr auch mein Cousin Kurt auf einem von drei Schleppzügen, die an in einen Schlepper angetaut waren, nach Sulina. Viele Leute von allen möglichen Ursprungsorten schlossen sich uns in Sulina an, darunter auch der Sohn von Jabotinsy.

Jetzt waren wir insgesamt 2500 Leute und wir mussten auf die Ankunft des Frachtschiffs aus der Türkei warten. Das Schiff kam an, aber zuerst musste es für den Aufenthalt von 2500 Passagieren vorbereitet werden, das heißt Schlafgelegenheit, Toiletten, Kochgelegenheiten und so weiter wurden bereitgestellt. Diese Arbeiten wurden durch eine Gruppe von 20 Männern am Schiff durchgeführt, welches außerhalb des Hafens, im offenen Meer, ankerte. Alles musste so schnell wie möglich fertig sein. Man kann sich vorstellen, was nötig war, um 2500 Leute zu versorgen. Draußen war es bitter kalt und es schneite, was die Lage sehr schwierig machte. Aber wir schafften es und fuhren schließlich am 15. Dezember 1939 in Richtung Palästina. Zuerst steuerten wir Baku an, um unsere Vorräte aufzufüllen, von dort aus fuhren wir zurück in die Türkei, fuhren an Konstantinopel vorbei, in den frühen Morgenstunden durchquerten wir den Bosporus und passierten die Dardanellen. Unser ursprünglicher Plan war es, außerhalb der Dreimeilenzone Anker zu werfen, in die Rettungsboote zu steigen und nahe der Küste das letzte Stück zu schwimmen. Aber wieder einmal war Gott mit uns und erleichterte uns die Situation. Während wir die Dardanellen passierten, tauchte plötzlich ein britischer Zerstörer auf, feuerte drei Kanonenschüsse vor unseren Bug und signalisierte uns, abzudrehen. Eine Abordnung von 12 Soldaten und einem Offizier kam an Bord. Nach Diskussionen, die etwa eine Stunde dauerten, entschlossen wir uns, mit den Soldaten an Bord weiterzufahren. Es gab Gerüchte, dass wir direkt in den Hafen von Haifa hineinfahren würden. Alle von uns waren glücklich – letztendlich kamen wir in unser sogenanntes Heimatland. Der Rest unserer Reise, nachdem wir vom Zerstörer gestoppt worden waren, verlief ruhig und es gab keinen weiteren Aufenthalt. Etwa 10 Tage später landeten wir im Hafen von Haifa. Von den 2500 Leuten, die auf dem Schiff waren, konnten 2000 aussteigen und wurden auf die verschiedenen Teile des Landes verteilt, wie es die „Jewish Agency“ geplant hatte. Die anderen 500 – darunter mein Cousin Kurt und ich – wurden noch für weitere drei Wochen auf dem Schiff festgehalten. (Ich habe noch nicht erwähnt, dass unser Schiff die „Sakkariah“ war.) Das Schiff wurde aus dem Hafen geführt und innerhalb der 3-Meilen-Zone verankert. Niemand, auch nicht wir, die demonstrierten, indem wir Semmeln, Flaschen und alles möglich ins Meer warfen, konnte etwas dagegen tun. Da wir nur mehr wenig Nahrungsmittel hatten, kam jeden Tag um 14:00 ein Polizist auf einer Barge oder mit einem Motorboot, um uns Essen – oder das, was sie so bezeichneten – zu bringen (weißer Käse, Oliven, Marmelade und Semmeln – alles davon in Dosen). Um unseren Wasservorrat aufzustocken, wurden wir zurück in den Hafen gebracht, um die Wassertanks des Schiffes aufzufüllen. Dies ging so drei Wochen, so lange dauerte die Wartezeit, bis wir das Schiff verlassen durften und mit Bussen zur Athlit Polizeistation gebracht wurden, wo wir für 6 Monate wegen illegaler Einwanderung interniert wurden. Die gesamte Anlage war mit Stacheldraht umzäunt, es gab Aussichtstürme und Bewachung rund um die Uhr. Wir waren in Baracken untergebracht, 30 Männer je Baracke, wir schliefen auf Holzbetten mit je 2 Decken. Es gab Duschen, eine Küche und einen Speisesaal. Diese Einrichtungen hielten wir selbst in Ordnung. Nach 6 Monaten wurden wir entlassen und jeder ging seiner Wege. Natürlich bekamen wir noch Dokumente, die unseren Namen, Geburtstag und so weiter auswiesen – ähnlich einer Identitätskarte. So sollten wir keine weiteren Probleme dabei haben, uns in Palästina aufzuhalten. Kurt und ich entschlossen uns, nach Haifa zu gehen, denn als ich mit meinen Eltern in Mattersburg (Österreich) gelebt habe, hatten sie einen Bekannten, Dr. Neuberger, ein Zahnarzt, der vor Jahren Palästina besucht hatte, ein großer Zionist war und schon im Jänner 1938 (vor dem Anschluss) hierher ausgewandert war. Beinahe seine ganze Familie kam Jahre vor Hitlers Eroberungskrieg nach Palästina. Er arbeite als Zahnarzt in Haifa und als er erfuhr, dass ich in Athlit war, besuchte er mich ein Mal. So gingen wir eines Tages zu ihm und baten ihn um Rat, was wir tun sollten. Er konnte uns aber nicht viel weiterhelfen. Das meiste, was er uns sagte, hatten wir schon im Lager erfahren, aber wir hörten uns alles an, um ihn, einen älteren Herrn, nicht zu beleidigen und verabschiedeten uns letztendlich höflich. Zu dieser Zeit übernachteten wir in einer Grundschule im Bezirk Hadar in Haifa, wo wir auf den Bänken schliefen und sowohl Frühstück als auch eine weitere Mahlzeit in der Schulküche bekamen. Ich arbeitete drei Tage in der Kurdani Poststation, wo ich Telefonmasten vom Abstellgleis in die Station brachte. Ich arbeitete mit drei weiteren Juden und drei Arabern für 15 Piaster je Tag. Kurt wurde in einen Kibbuz nahe Rosch-Pina geschickt, wo er in der Küche arbeitete. Nach diesen drei Tagen ging ich nach Tel Aviv, aber es waren schwierige Zeiten und ich konnte keine Arbeit finden. Keiner sprach mit mir. Ich konnte aber ein paar Freunde wiederfinden, die ich aus Mattersburg kannte, und die mir halfen, für ein paar Tage eine Unterkunft zu finden. In der Zwischenzeit hörte ich, dass man sich dem palästinensischen Teil der britischen Armee anschließen konnte, was ich tat. Ich wurde ein Fahrer, da ich ja einen Führerschein hatte. Nachdem ich den ersten Teil meiner militärischen Ausbildung absolviert hatte, bekam ich eine Ausbildung zum Lastkraftwagenfahrer und am 31. Dezember 1940 war ich schon auf dem Weg nach Kairo und lenkte einen 10 Tonnen Diesel LKW der Marke Foden.

Hier noch einige Informationen zu denen, die ich in meiner Lebensgeschichte, die mich von August 1938 bis Dezember 1940 durch viele Länder führte, erwähnt habe:

Mein Onkel Moritz Maneles fuhr mit seiner Frau 1943 auf dem Schiff „Patria“ nach Palästina. Das Schiff wurde durch Sabotage gesprengt und sank. Mein Onkel wurde ins Meer geschleudert. Er konnte nicht schwimmen, aber schaffte es, sich an einem Stück Holz anzuklammern, worauf er an den Strand geschwemmt wurde. Meine Tante Frida ertrank, da sie nicht schwimmen konnte. Onkel Moritz lebte bis 1946 in Tel Aviv und kehrte nach dem Krieg nach Österreich zurück. Tante Frida ist am Friedhof von Haifa in dem Abschnitt für Flüchtlinge, die durch das Sinken der Patria gestorben sind, begraben. Alle noch lebenden Mitglieder der Familie kommen zu ihrem Grab, das für uns ein Ort des Gedenkens ist.

Mein Cousin Kurt trat dem 2. Bataillon der jüdischen Brigade im Jahr 1942 bei. Als Koch war er in Italien und Belgien stationiert, wo er ein belgisches jüdisches Mädchen heiratete. Nach dem Ende des Krieges kam er nach Palästina zurück, um seinen Abschied von der Armee zu nehmen. Danach kehrte er nach Antwerpen zu seiner Frau zurück. Sie leben immer noch dort.

Onkel Moritz’ ältere Tochter, Gerda, die in Prag einen jüdischen Jungen geheiratet hat, wurde nach Theresienstadt deportiert, von wo aus sie nach Auschwitz gebracht wurde, wo sie ermordet wurde. Ihr Ehemann lebt in Australien, und soweit ich weiß, korrespondiert er sporadisch mit Kurt.

Die jüngere Tochter von Onkel Moritz wurde nach England geschickt, wo sie von Pflegeeltern aufgezogen wurde. Als sie erwachsen war, trat sie in die britische Armee (ATS) ein. Sie heiratete später einen jüdischen Mann, der in der Luftwaffe der britischen Armee diente. Nach dem Krieg übersiedelten sie in die USA und lebten in Boston. Sie haben einen Sohn. Ich besuchte sie im Jahr 1974 in Boston. Heute lebt ihr Mann in Boston und ihr Sohn in New Jersey. Kurt ist in ständigem Kontakt mit ihnen.