Neue Erkenntnisse

Schon seit 30 Jahren ist mir bekannt, dass es in Laa an der Thaya jüdische Zwangsarbeiter gab. Bis vor wenigen Tagen wusste ich von folgenden Gruppen jüdischer Zwangsarbeiter:

1) Polnische und ukrainische Juden , die im Garten des Pfarrhofs untergebracht waren und in der Ziegelei arbeiteten

2) Ungarische Juden, die am Blaustaudenhof und zuvor in Laa an der Thaya Zwangsarbeit verrichten mussten (Dokumente hinsichtlich der Zeit in Laa liegen mir vor, sind aber noch nicht aus dem Ungarischen übersetzt)

Nun kann ich eine dritte Gruppe angeben, die sich aus den Recherchen auf der Datenbank von Yad Vashem ergeben hat. Yad Vashems Quelle ist hierbei die Liste der Häftlinge des Lagers Terezin / Theresienstadt des Buches „Terezínské pamětní knihy“. Es handelt sich bei den auf Yad Vashem genannten Zwangsarbeitern um 17 Personen, von denen 12 aus dem heutigen Serbien stammen, 4 sind Ungarn und ein weiterer Ort kann geografisch nicht festgelegt werden. Es fällt auf, dass nur 2 Männer dabei waren. Kinder waren nicht unter den Gelisteten (im Gegensatz zu den oben genannten Gruppen). Weiters sticht ins Auge, dass 7 der 17 Genannten jugendliche Mädchen waren, die zwischen 1921 und 1927 geboren wurden (zu Kriegsende zwischen 18 und 24 Jahren alt). Nur eine Frau ist deutlich älter als alle anderen (Hermine Ernst, geb. 1875, war zu Kriegsende 70 Jahre alt). Die Mehrheit (9 Personen) wurde zwischen 1892 und 1901 geboren (zu Kriegsende 44 – 53 alt), sie waren also in einem Alter, in dem sie in Auschwitz sofort ermordet worden wären. Das führt zu zwei bemerkenswerten Punkten, die alle gemeinsam haben: Alle 17 Personen wurden von Laa an der Thaya nach Theresienstadt gebracht und alle überlebten. 

In Theresienstadt starben die Menschen in großer Zahl an Krankheiten und Unterernährung, es ist also gut denkbar, dass auch diese Zwangsarbeiter wie die Gruppe vom Blaustaudenhof vielleicht erst in einer späten Phase des Krieges nach Theresienstadt deportiert wurden.

Im Folgenden soll anhand einiger Fragestellungen versucht werden, möglichst viel über die Zwangsarbeiter herauszufinden.

Was ist über die neue Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter bekannt?

Im Folgenden habe ich die mir bekannten Daten über die 17 jüdischen Zwangsarbeiter in einer Tabelle geordnet, wobei sie nach augenscheinlicher Familienzugehörigkeit geordnet sind und innerhalb derer aufsteigend nach den Geburtsjahren:

Name, VornameGeburtsjahrGeschlechtGeburtsortWohnort
vor dem Krieg
Aufenthalt
während Krieg
Biermann Hela1894wSubotica - SerbienSubotica, Laa/Th.
Biermann Klara1895wZenta - SerbienSubotica, Laa/Th.
Biermann Ella1921wSubotica - SerbienSubotica, Laa/Th.
Biermann Magda1925wSubotica - SerbienSubotica, Laa/Th.
Biermann Anna1926wSubotica - SerbienSubotica, Laa/Th.
Ernst Hermine1875wFurta - UngarnKarcag - Ungarn, Laa/Th.
Scheiner Irene1897wKarcag - UngarnKunmadyaros - Ungarn, Laa/Th.
Horti Dora1925wSubotica - SerbienSubotica, Laa/Th.
Kertesz Adel1895wStara Moravia ODER Bacskossuthfalva - SerbienBacskossuthfalva - SerbienSubotica, Laa/Th.
Kertesz Rosa1924wBacskossuthfalva - SerbienSubotica, Laa/Th.
Kertesz Edit1927wBacskossuthfalva - SerbienSubotica, Laa/Th.
Lang Jeno1892mSubotica - SerbienSubotica, Laa/Th.
Lang Bella1898wBezdan - SerbienSubotica, Laa/Th.
Lang Aranka1902wOszt Ivan - ?Subotica, Laa/Th.
Lang Hedwig1923wSubotica - SerbienSubotica, Laa/Th.
Weisz Andor1896mIvanka - Slowakei ODER Borsod - UngarnBorsod - UngarnSubotica, Laa/Th.
Weisz Iren1901wAcs - Komitat Komárom-Esztergom - UngarnLaa/Th.

Handelte es sich um Familien oder Einzelpersonen?

Anhand der Geburtsdaten, Familiennamen und Wohnorten vor dem Krieg lassen sich mit gewisser Wahrscheinlichkeit in einigen Fällen Verwandtschaftsverhältnisse ableiten. Da nur 2 der 17 Personen Männer waren, wird deutlich, dass die wenigsten Zwangsarbeiter mit ihrer ganzen Kernfamilie deportiert worden sind. Es gibt nur eine Einzelpersonen, die niemanden zuzuordnen ist: Dora Horti, ein Mädchen das 1925 in Subotica geboren worden ist.

Die Verwandtschaft ist im Fall der Familie Biermann gut abzuleiten. Hela Biermann wurde 1894 in Subotica geboren, auch Ella (geb. 1921), Magda (geb. 1925) und Anna (geb. 1926) wurden in Subotica geboren. Subotica und Laa an der Thaya sind als Aufenthaltsorte während des Krieges angegeben. Man kann davon ausgehen, dass es sich wahrscheinlich um eine Mutter mit ihren drei Töchtern handelte. Klara Biermann wurde ein Jahr nach Hela in Zenta (heute: Senta) geboren. Die bekannten Aufenthaltsorte während des Krieges teilt sie mit den anderen. Geburtsjahre und Unterschiede im Geburtsort, aber der gleiche Familienname lassen vermuten, dass sie die Schwägerin von Hela sein könnte. Ella, Anna und Magda könnten natürlich auch zum Beispiel Cousinen statt Schwestern sein, doch machen Geburtsort und -jahrgänge letzteres nicht unwahrscheinlich.

Gut möglich ist es, dass es sich bei Adel Kertesz (geb. 1895) um die Mutter von Edit (geb. 1927) und Rosa (geb. 1924) gehandelt hat, da die Nachnamen, Geburts- und Wohnorte während des Krieges übereinstimmen.

Nicht offensichtlich ist die Situation im Fall der Familie Lang, doch kann man wohl mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass Jeno Lang (geb. 1892) der Vater oder eventuell der Onkel von Hedwig (geb. 1923) gewesen sein wird.

Nun ein Wort zu den beiden ungarischen Familien. Hier überschneidet sich die Liste von Yad Vashem ein einziges Mal mit meinem bisherigen Erkenntnissen. Bei Hermine Ernst muss es sich um die Mutter von Irene Scheiner handeln, die in Laa und am Blaustaudenhof als Zwangsarbeiter arbeiten mussten. Sie sind im Zeugnis ihres Nachfahrens Joe S. erwähnt.

Im Fall von Andor und Iren Weisz scheinen die unterschiedlichen Geburtsorte auf ein Ehepaar hinzudeuten, doch stimmen die restlichen Aufenthaltsorte nicht so wie in den anderen Familien überein, was das Verhältnis fraglich werden lässt. Man darf natürlich keineswegs von lückenloser Dokumentation ihrer Aufenthaltsorte ausgehen. Sie kommen in den Aufzeichnung von Joe S. nicht vor und es ist ebenso fraglich, wo genau sie als Zwangsarbeiter in Laa lebten, wie das auch bei den serbischen Zwangsarbeitern aus der Datenbank von Yad Vashem der Fall ist.

Woher stammten die Menschen?

Dreh und Angelpunkt, der 14 von 17 Personen verbindet, ist die serbische Stadt Subotica (ungarischer Name: Szabadka, deutscher Name bis 1918: Maria-Theresiopel).

Einerseits war die Stadt für 7 der 17 der Geburtsort und Wohnort vor dem Krieg. Sie waren Teil einer alten und großen jüdischen Gemeinde (seit 1743 belegt, 6.000 Mitglieder im Jahr 19401). Die Synagoge der Stadt, die heute noch steht, ist die zweitgrößte Europas. Heute ist der Ort mit 105.681 Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Vojvodina und die fünftgrößte Stadt in Serbien.2

Andererseits haben während des Krieges 14 der 17 Personen in Subotica gelebt. Dies mag daran liegen, dass in Subotica ein Durchgangslager3 für die deportierten Juden der Vojvodina eingerichtet wurde (ab April 19444). Das Ziel des Durchgangslagers war es, Menschen aus den umliegenden Gebieten zu sammeln und von dort nach Auschwitz in den sicheren Tod oder in andere Lager zu deportieren. Die Gefangenen wurden dort auch verhört und man versuchte, ihnen so noch die letzten Wertgegenstände abzunehmen.5 In 5 Lagern in Serbien waren zeitgleich etwa 20.000 Personen inhaftiert6, wobei die jüdische Gemeinde von Subotica alle Insassen des Durchgangslagers mit Essen versorgen sollte, was diese natürlich vor ein großes, unlösbares Problem stellte.7

Welche Stationen die Menschen von Subotica bis Laa an der Thaya passierten, ist unbekannt. Es ist belegt, dass die Juden von Subotica am 7. Juni 19448 in das Getto in Bacsalmas, deportiert wurden, von wo aus sie sechs Tage später in Todeslager oder in die Zwangsarbeit deportiert wurden. Als bekannt wurde, dass man Pakete mit Essen in dieses Getto bringen dürfe, machten sich 126 nicht-jüdische Einwohner der Stadt Subotica mit dem Auto oder per Zug auf den Weg und brachten 316 Pakete dort hin, welche an die Familien verteilt wurden. Die Polizei in Subotica stellte daraufhin Nachforschungen an, wie es zu dieser Menge an Einzelaktionen kommen konnte und unterband diese Möglichkeit.9

Es ist gut denkbar, dass eine der Stationen auf dem Weg nach Laa Strasshof in der Nähe von Wien gewesen ist, welches als riesiges Durchgangslager für jüdische Zwangsarbeiter diente. Dies ist aktuell nur für Hermine Ernst und Irene Scheiner (siehe Zeugnis Joe S.) dokumentiert.

Belegt ist hingegen, dass es jüdische Zwangsarbeiter in Gänserndorf gab, die aus der Vojvodina stammten und aus einem Zug herausgeholt wurden, weil sie als kräftig genug galten, während die anderen nach Auschwitz in die Vernichtung weitertransportiert wurden.10 

86 % der Juden der Vojvodina wurden im Holocaust ermordet.11 Zwar führt das Theresienstädter Häftlingsregister an, dass die hier genannten Zwangsarbeiter alle überlebt haben, aber wie hoch der Blutzoll ihrer Familien war, bleibt unbekannt, ebenso wohin ihr Leben sie geführt hat.

Wieso ist davon auszugehen, dass es sich um jüdische Zwangsarbeiter handelte?

Man kann aus dem Text in der Datenbank von Yad Vashem, der allen 17 Personen als Erklärung zu der Anmerkung angefügt ist, dass er oder sie den Holocaust überlebt habe, schließen, dass es sich um jüdische Zwangsarbeiter handelte: „Jews deported to or imprisoned in camps, ghettos or forced labor frameworks, who were in hiding, in clandestinity or resistance formations, or suffered relentless persecution under antisemitic legislation in territories controlled by the Nazis or their allies, and were alive by the end of 1945 are considered Shoah survivors.“ Für Yad Vashem besteht also kein Zweifel, dass die genannten Zwangsarbeiter Juden waren.

Was ist über die Arbeit bekannt, die die Menschen in Laa verrichten mussten, und über die Umstände, wie sie hier lebten?

Leider ist diesbezüglich derzeit nichts bekannt. Weil über die Arbeit und Lebensumstände der anderen Gruppen jüdischer Zwangsarbeiter in Laa aber  Informationen vorliegen, kann man gewisse Vermutungen anstellen. Wie Frank Kuhn12, der als Kind Zwangsarbeiter am Blaustaudenhof war, sagte, hingen die Arbeitsbedingungen und die Überlebenschancen immer von der Menschlichkeit derer ab, die sie beschäftigten. Wie man am Beispiel der christlichen Helfer in Bacsalmas sieht, sicherte der Mut des Einzelnen an manchen Orten das Überleben der Verschleppten. Wo es keine Menschen mit Zivilcourage gab, war der Tod zumeist nur eine Frage der Zeit.

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1 https://www.jewishvirtuallibrary.org/subotica

2 Amt für Statistik der Republik Serbien. Publikation vom April 2014

3 Nebojša Kuzmanović, PhD: DEPORTATION OF THE JEWS OF BAČKA IN 1944, S. 35

4https://www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/1272/Memorial-to-the-murdered-Jews-of-Subotica

5 Siehe: DEPORTATION OF THE JEWS OF BAČKA IN 1944, S. 35 

6 ebd. S. 45

7 ebd. S. 54

8https://www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/1272/Memorial-to-the-murdered-Jews-of-Subotica

9 Siehe: DEPORTATION OF THE JEWS OF BAČKA IN 1944, S. 54

10 ebd. S. 58

11 ebd. S. 260

12 Interview mit Frank Kuhn vom 10.11.1996, Melbourne Holocaust Center Oral Testemonies Project