Heinrich / Heinz / Henry Manele(y)s – One Way Ticket von Laa/Thaya nach Schottland
In wenigen Wochen werden es 30 Jahre sein, dass ich mich mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde von Laa an der Thaya beschäftige. Man kann sich vorstellen, dass nach dieser langen Zeit nicht mehr täglich Neuigkeiten zu erwarten sind. Doch das World Wide Web bietet Möglichkeiten, die vor 30 Jahren vollkommen undenkbar waren. So wurde ich zu Beginn dieses Sommers (2021) aus dem Vereinigten Königreich, von der Tochter von Heinrich Maneles, kontaktiert.
Über Heinrich Maneles, der als Jugendlicher in Laa/Thaya auch Heinz genannt wurde, war mir zuvor wenig bekannt. Das lag wohl daran, dass die Familie erst relativ kurz vor dem Anschluss von Mistelbach nach Laa übersiedelt war. Von den ehemaligen Laaern wusste ich, das Heinz Maneles überlebt hatte und – so sein Cousin Ernst Neumann – in den 1960ern noch in England lebte. Der Kontakt riss jedoch ab und der weitere Verbleib war unbekannt. (Ernst Neumann, Brief vom 18.7.1992)
Die zweite Erinnerung an Heinz Maneles geht in die Monate vor dem Anschluss zurück. Karola Österreicher, die im Jahr 1938 zwölf Jahre alt war, erinnerte sich so an ihn:
„1938 kam Heinz aus Mistelbach mit seinen Eltern nach Laa wohnen. Eines Tages klingelte es an der Tür – Burli kläffte – als ich die Tür aufsperrte, fasste Burli ihn am Hosenbein u. ließ ihn nicht los: Mit schwerer Mühe beruhigte ich Burli u. ließ den Gast eintreten. Er erklärte mir, dass er Musikliebhaber wäre u. ob er auch mit meinen Tieren (das waren zur Zeit: Burli, blinde Katze, armer lahmer Vogel, zwei Marienkäfer in einer Schachtel mit Luftlöchern) meine Musik genießen könnte. Natürlich durfte er. So kam er alle Tage – ein junger Mann von etwa 16 Jahren, ich allerdings zählte erst 12 Lenze. Aus den Jugendbüchern ersah ich, was die große Liebe ist, so wartete geduldig, vielleicht wird Heinz sich in mich verlieben u. mich küssen. Es geschah nichts dergleichen. Fragte meine Cousine um Rat, sie lachte u. sagte: Schau dich im Spiegel an – immer zerschundene Knie, zerrissene Kleider vom Bäumekraxeln, lang u. mager wie eine Bohnenstange – auch nicht so sauber, wie soll man sich in so was verlieben? Ich versprach ihr, sie nicht mehr zu schlagen, wenn sie mir hilft, mich für Heinz schön zu machen.
Am anderen Tag wusch ich mich, band meine Knie mit weißen Taschentüchern zu. Meine Cousine richtete mich folgendermaßen her. In meinen Busen (den ich gar nicht hatte) steckte sie 2 grosse Zwiebeln u. befestigte sie mit einem Tuch, auf meine Nägel klebte sie rotes Papier, das sich beim Klavierspielen ab und zu entfernte, mit Wasserfarbe malte sie meine Wangen rötlich u. meinen Mund knallrot. Sie borgte mir ihr schönstes Kleid, kämmte mein ewig zerrauftes Haar u. band mir eine Masche. In froher Erwartung saß ich beim Klavier u. wartete auf Heinz. Burli bellte u. ich wusste, er kommt. Als ich die Tür aufmachte war Heinz so perplex, er starrte mich an, murmelte ein paar Worte – er hätte den Wohnungsschlüssel vergessen u. verschwand. Ich hatte eine richtige Wut im Bauch – stürzte mich auf meine Cousine, prügelte sie windelweich u. mein geliebter Burli bekam einen Fußtritt, was ich sonst nie tat. Am anderen Tag war ich wieder ich selbst – zerrauft, zerschunden, verdreckt. Wir lachten beide, Heinz u. ich, er fasste meine Hand, was er noch nie tat, u. führte mich zum Klavier. Ich fühlte, wie ich bis zu den Haarspitzen rot wurde u. war beim Klavierspielen ganz unkonzentriert.“
Das ist nun herzlich wenig, wie man zugeben muss, ein Wimpernschlag im Leben eines Menschen. Umso dankbarer bin ich, dass die Tochter von Heinz Maneles durch ihre Informationen maßgeblich dazu beigetragen hat, dass auf dieser Webseite nun auch Heinrich Maneles und seinen Eltern gedacht werden kann.
Heinrich Maneles war der einzige Sohn von Cecilia (geb. Brunner aus Mistelbach) und Gustav Maneles. Schon die Eltern von Gustav Maneles, Emilie und Jakob Maneles, lebten in Laa an der Thaya. Sie sind in einer wichtigen Quelle aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts mehrfach genannt (“Illustrierter Führer durch Laa a.d. Thaya und vollständiges Adressbuch der l.f. Stadt Laa a. d. Thaya, Niederösterreich mit eh ein Verzeichnis sämtlicher in Laa ansässiger Personen“ aus dem Jahr 1908):
– Auf S. 106 wird die Adresse von Jakob, Emilie, Gustav, Marie, Laura und Gisela Maneles mit Hauptstraße 19 angegeben.
– Auf Seite 86 wird Jakob Maneles als Hausbesitzer in Laa an der Thaya angeführt.
– Auf Seite 77 wird Jakobs Beruf mit „Gemischwarenverschleiß“ (= Gemischtwarenhandlung war eine frühe Form des Supermarkts) angegeben. Auch seine Söhne Moritz und Gustav betrieben später Getreidehandel.
Gustavs Mutter Emilie verstarb im Februar 1909. Die Familie bedankte sich in der Zeitung „Mistelbacher Bote“ am 19.2.1909 für die zahlreichen Beileidsbekundungen. Wann Jakob Maneles verstarb und wo beide begraben sind, ist unbekannt.
Gustav, Laura und Gisela waren Geschwister. Der Bruder Moritz wird hier nicht genannt, wahrscheinlich hat er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bei den Eltern gelebt. Hinsichtlich Marie, die 1908 an der gleichen Adresse gelistet wird, kann ich die Verwandtschaft nicht mehr bestimmen.
Laura heiratete Otto Bloch, der in der Nähe des Hauptplatzes zuerst eine Schneiderei und dann ein Kleidergeschäft betrieb.
Gisela heiratete Ignaz Neumann und zog mit ihm und dem gemeinsamen Sohn Ernst/Arie nach der Pensionierung des Vaters nach längerer Stationierung in Eisenstadt (Burgenland) wieder nach Laa.
Moritz lebte mit seiner Frau Frieda (geb. Hahn aus Poysdorf) und den Kindern Gerda, Kurt und Erika in Laa auf der Hauptstraße und betrieb hier „Fruchthandel“ (Getreidehandel).
Maries Schicksal ist ungeklärt.
Gustav Maneles heiratete Cäcilia Brünner (geb. 24.11.1892 in Mistelbach). Sie war die Tochter von Anna und Ignaz Brünner, welche einen Getreide- und Mehlhandel betrieben (Hauptplatz 7, Mistelbach). Laut „Mistelbacher Bote“ fand die Trauung am 16.1.1921 um 13:30 in Mistelbach statt.
Heinrich Maneles wurde am 2.12.1921 geboren. Da der Bruder seiner Mutter, Heinrich Brünner, im jugendlichen Alter verstorben war, ist davon auszugehen, dass er nach dem Onkel benannt wurde. Kinder nach verstorbenen, sehr geschätzten Familienmitgliedern zu benennen, war üblich. Als Jugendlicher trug er den Spitznamen Heinz. In der Emigration änderte er seinen Vornamen auf Henry und den Familiennamen auf Maneleys. Seine Tochter nimmt an, dass er den Nachnamen so verändern ließ, um ihn mehr englisch klingen zu lassen.
Heinrich Maneles konnte mit seinem Vater nach England fliehen. Ob er eine gewisse Zeit auf der Isle of Man interniert war, ist nicht geklärt. Seine Tochter berichtet, dass er zuerst für den Pioneer Corps arbeitete und dann der britischen Armee beitrat. Später lebte und arbeitete er in Huddersfield (in der englischen Grafschaft West Yorkshire) in der Textilindustrie. Anschließend studierte er in einem College in Glasgow, wo er beim Tanzen seine zukünftige Frau May MacDonald Izatt (geb. 1927) kennen lernte. Sie stammte aus Rutherglen bei Glasgow (Schottland). Das Paar heiratete 1955 und zog nach Gourock, einer Stadt an der schottischen Küste. Dort wurden die beiden Töchter (1958 und 1961) und der Sohn (1963) geboren. Zu dieser Zeit arbeitete Henry als Übersetzer bei IBM (Deutsch, Französich, Russisch). 1968 übersiedelte er die Familie nach Edinburgh, weil der Vater nun als technischer Übersetzer bei Ferranti (= britisches Unternehmen der Elektroindustrie) arbeitete. Als er acht Jahre später in den öffentlichen Dienst trat, zog die Familie nach Basingstoke in England. Mit 60 Jahren setzte sich Henry Maneles zur Ruhe und das Paar übersiedelte wieder nach Edinburgh. 2005 konnten sie ihre goldene Hochzeit feiern. Am 17. August 2007 starb Henry Maneles in seinem Zuhause in Edinburgh, sechs Jahre später folgte ihm seine Frau. Seinem Wunsch entsprechend wurde er eingeäschert und die Asche wurde verstreut. Am Friedhof der örtlichen Kirche gibt es einen Grabstein, der an ihn und seine Frau erinnert. Seine drei Kinder und acht Enkelkinder leben bis heute im Vereinigten Königreich.
Obwohl Henry Maneles als Übersetzer arbeitete und somit täglich mit der deutschen Sprache zu tun hatte, kehrte er nie nach Österreich zurück. Die Kinder wurden zwar nicht zweisprachig erzogen, jedoch versuchte er, ihnen einzelne Wörter beizubringen. Durch IBM hatte er Kontakt zu deutschsprachigen Kollegen und befreundete sich auch mit einer Familie in Sindelfingen. Trotzdem blieb die österreichische Vergangenheit ein Punkt, über welchen er mit seinen Kindern lieber nicht sprechen wollte. Die Kindheit und Jugend in Österreich, genauso wie die jüdische Herkunft, schien er für viele Jahre auszuklammern. So wurden die Kinder nach der Religion der Mutter als Protestanten in der Church of Scotland erzogen. Henry Maneles trat jedoch niemals dieser Glaubensgemeinschaft bei.
Dass er Österreich in vieler Hinsicht den Rücken gekehrt hat, verwundert nicht. Man darf nicht vergessen, dass dieses Land ihn als Jugendlichen zur Flucht gezwungen und seine Familie auseinander gerissen hat. Zwar konnte seinen Vater Gustav mit ihm gemeinsam entkommen, jedoch lebten sie später in England weit von einander entfernt. Gustav starb am 21. Juni 1960 in einem Spital in Manchester. Er hatte im Norden Englands als „Market Gardener“ gearbeitet. Das bezeichnet jemanden, der auf kleinem Gebiet für sich selbst Lebensmittel anbaut und das, was er nicht braucht, verkauft.
Henrys Mutter Cäcilie blieb in Österreich. Zwar hatte ihr Sohn ihr in England eine Stelle beschafft, doch aus unbekannten Gründen trat sie die Reise nie an. Meine Erfahrung nach gab es viele Gründe, wieso Menschen selbst eine reale Möglichkeit zur Flucht nicht nutzen. Entweder sie wollten ältere Verwandte nicht im Stich lassen oder sie fühlten sich einer fremden Umgebung mit einer unbekannten Sprache im fortgeschrittenen Alter nicht gewachsen. Natürlich war aber spätestens mit Kriegsbeginn jeglicher Weg aus Österreich beziehungsweise dem damaligen deutschen Reich versperrt.
Henry versuchte seine Mutter über das Rote Kreuz zu kontaktieren, aber leider war ihr Weg der gleiche wie der vieler ihrer jüdischen Altersgenossen. Cäcilie Maneles wurde von einer Sammelwohnung (dorthin mussten jene, die nicht auswandern konnten und in den Landgemeinden nicht mehr bleiben durften vor der Deportation) in der Großen Schiffgasse 1a im 2. Wiener Bezirk mit dem 14. Transport und der Häftlingsnummer 728 am 11.1.1942 nach Riga deportiert. Sie hat nicht überlebt. Sofern sie die Reise überstanden hat, wurde sie wohl wie alle älteren Menschen dort sofort zur Exekutionsstätte gebracht. Cäcilie Maneles war eine von 1000 Menschen, die am 11.1.1942 Wien Richtung Riga verließen und am 15.1. in der heutigen lettischen Hauptstadt ankamen. Nur 31 davon haben überlebt. (Todesort Riga)
Wenn sich seine Tochter heute an ihren Vater erinnert, so sieht sie Henry Maneles in seinem Garten bei der Arbeit vor sich. Johann Wolfgang von Goethe schrieb: „Das Äußere einer Pflanze ist nur die Hälfte ihrer Wirklichkeit.“ Ich denke, das trifft auch in gewisser Weise auf Heinrich / Heinz / Henry Manele(y)s zu. Wie schwierig es gewesen sein muss, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, kann nur erahnt werden.