Folgender Artikel stammt aus dem „Kurier“. Joseph versendete in diesem Fall nur einen kopierten Teilausschnitt, der nur den Untertitel zeigt. Auch das genaue Erscheinungsdatum ist nicht daraus abzulesen. Handschriftlich hat er „Kurier, Wien 1985“ vermerkt. Im Folgenden finden Sie eine Abschrift.
Joseph Kolb, ein geachteter Kaufmann
An meinem fünfzigsten Geburtstag sitze ich im geräumigen Vorhaus eines Weinviertler Bauernhofs einem alten Herrn, Joseph Kolb, gegenüber. 1938 mußte er, ein geachteter Kaufmann, seine Heimat verlassen, um sein Leben zu retten. Nicht allen seinen Geschwistern und auch nicht an die fünfzig weiteren seiner Verwandten glückte das. Sie starben in Vernichtungslagern. Im Gespräch mit Herrn Kolb aus Gaweinstal oder Cover-City [Anmerkung: richtig ist Culver City] werden alte Zeiten lebendig. Die Feste in der Familie und Gemeinde – der Sabbath, das Pesachfest, Jom Kippur – an diesem Tag dauerte der Gottesdienst in der Mistelbacher Synagoge von der Früh bis zum Abend, nachdem vorher alle einander vergeben hatten – der Tag, an dem der Dreizehnjährige Bar-Mitzwa, „Sohn der Pflicht“ wurde, und vor versammelter Gemeinde den Wochenabschnitt aus der Thora vorlas, die Trauung unter der Schupp, diesem goldbestickten, mit hebräischen Inschriften verzierten Baldachin, der „Taschentuchtanz“ beim Hochzeitsschmaus und die irdenen Scherben, die den Toten auf Augen und Mund gelegt wurden. Lebendig wird auch Großvater Albert Kolb, der die Maut in Kollnbrunn und neunzehn anderen Mautstellen im Weinviertel gepachtet hatte und 104 Jahre alt geworden war. Wie jeder, der nach langen Jahren heimkommt, besucht Herr Kolb Friedhöfe, gibt getreu der alten Aufforderung „hebt das beruhigende Steinchen auf und legt es auf den Sims der Erinnerung“ Kiesel auf die Gräber. Wenn er das „Haus des Lebens“, den Friedhof, verläßt, pflückt er eine Handvoll Gras und spricht dabei die Psalmzeile „Blühe wie Kraut auf der Erde“. Sehr friedlich ist es hier. Selbst die leise Bewegung, die durch die Gräber geht, wenn Wind Staub von den Feldern von Auschwitz oder woandersher ins Weinviertel trägt, ist nicht zu spüren.